Bei näherer Betrachtung. Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten

Bei näherer Betrachtung. Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten

 

 

 

von: Jean-Christophe Ammann

Westend Verlag, 2007

ISBN: 9783938060216

Sprache: Deutsch

296 Seiten, Download: 2429 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Bei näherer Betrachtung. Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten



Kapitel 5: Frauen – Männer, Erotik – Sexualität Was unterscheidet eine Künstlerin von einem Künstler? (S. 142-143)

Beginnen wir gleich mit zwei Beispielen: 1989 schafft Rosemarie Trockel, Jahrgang 19 2, ein maschinengestricktes Wollbild in den Ausmaßen 18 mal 1 0 Zentimeter. Das schwarze Horizontband am unteren Bildrand – es ist etwa vierzig Zentimeter breit – erschließt einen baumnussbraunen Himmel. Von oben dringen vertikal zwei parallele Sprechblasen ins Bild. In der einen steht in Handschrift geschrieben: »Bitte tu mir nichts«, in der anderen: »Aber schnell«. Ich glaube, dass jeder dieses Werk als die Arbeit einer Künstlerin erkennen wird. Angesprochen wird eine Art von unausweichlicher Situation, die, so scheint es, nur mit der Bitte um schnelles Handeln bewältigt werden kann. Die »weibliche« Strickarbeit verzeitlicht und zerdehnt den atemlos und angstvoll ausgesprochenen Stressmoment: Wenn es denn schon sein muss, dann bitte schnell.

Aber es gibt eine Ambiguität in diesem Werk. Zum einen handelt es sich um Sprechblasen, also um eine Art indirekter Rede. Zum anderen sind es zwei Sprechblasen, so dass zwischen Bitte und Aufforderung eine augenzwinkernde Zeitspanne vorstellbar ist, welche die Passivität des Opfers in ein aktives Rollenspiel verweist, etwa so, dass sich der potentielle »Täter« den Vorstellungen der Frau zu unterwerfen hat. Das Schaffen von Rosemarie Trockel ist von solchen Ambiguitäten durchdrungen.

199 hat Bill Viola, Jahrgang 19 1, für den amerikanischen Pavillon auf der Biennale von Venedig »The Greeting« geschaffen. Ein Film, 3 Millimeter, mit 4 Sekunden Realzeit, wird in der Endfassung als Großbildvideo auf zehn Minuten gedehnt. Erzählt wird die Begegnung der beiden schwangeren Frauen Elisabeth und Maria (Lukas 1, 39–4 ).

Die eine wird Johannes gebären, die andere Jesus. Der Videoarbeit zugrunde liegt das Werk »Die Heimsuchung« (1 28/29) von Jacopo Pontormo in der Pfarrkirche von San Michele in Carmignano bei Florenz. Viola übernimmt die üppige Gewandung. Die beiden Frauen erkennen sich freudestrahlend in ihrer Schwangerschaft, umarmen sich. Das Erstaunliche ist, wie die Zeitverzögerung zur Realzeit mutiert, wie das Erkennen sich in einen Prozess innigster Gemeinsamkeit verwandelt. – Ich glaube nicht, dass eine Künstlerin ein solches Werk schaffen würde, denn die Schwangerschaft ist viel zu sehr konstitutiv dem weiblichen Körper eingeschrieben.

Betrachtet man die Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, so kann man feststellen, dass der Weg der Künstler eher gradlinig war. Bedingt durch die Schübe der Avantgarden, verfolgten sie ein Stilprinzip. Künstlerinnen mäanderten dagegen – und sie tun es bis heute – durch ihre weibliche Phantasie. Ich erwähne Paula Modersohn-Becker, Sophie Täuber-Arp, Georgia O’Keeffe, Frida Kahlo, Meret Oppenheim, Louise Bourgeois. Pointiert ausgedrückt: Vor dem berühmten Jahr 1968 gab es Kunst von Frauen. Danach: Künstlerinnen. Das sogenannte Revolutionsjahr 1968 hat die Welt der Männer nur für einen kurzen Zeitraum aus den Angeln gehoben. Die Welt der Frauen erfuhr dagegen eine dramatische und nachhaltige Veränderung. Es gibt drei Fakten: Betrachten wir erstens 1968 als ein Schwellenjahr, erkennen wir die Folgen für ein neues, weibliches Bewusstsein erst einige Jahre später, so um die Mitte der Siebzigerjahre. Dieser Zeitraum entspricht zweitens genau dem Ende der historischen Avantgarden.

Der dritte Fakt ist das Aufkommen der Antibabypille Mitte der Sechzigerjahre. Diese hat nicht nur das Leben der Frauen, sondern, strategisch gesehen, eine ganze Gesellschaft verändert. Chronologisch betrachtet, haben wir demzufolge: die Pille, »1968« und das Ende der historischen Avantgarden. Diese drei Faktoren haben das Fundament eines radikal neuen weiblichen Bewusstseins geschaffen, sowohl im allgemeinen als auch für die Künste im besonderen.

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