Suizidalität

Suizidalität

 

 

 

von: Tobias Teismann, Wolfram Dorrmann

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783840924361

Sprache: Deutsch

104 Seiten, Download: 3859 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Suizidalität



Im Sinne eines biografischen Faktors konnte wiederholt gezeigt werden, dass eine Geschichte kindlicher Missbrauchserfahrungen mit vermehrter Suizidalität assoziiert ist (Brodsky & Stanley, 2008) . Schließlich ist ein biografischer Hintergrund familiärer Suizide assoziiert mit einem erhöhten Suizidrisiko . Es lässt sich vermuten, dass Personen, die den Suizid eines Familienmitgliedes erlebt haben, suizidale Handlungen in stärkerem Maße als gangbaren Weg in Anbetracht schwerwiegender Probleme einschätzen . Darüber hinaus ist auch von einer bedeutsamen genetischen Komponente suizidalen Verhaltens auszugehen (siehe Kapitel 2 .4) . Auf die Bedeutung früherer Episoden selbstverletzenden Verhaltens und vergangener Suizidversuche wird in Kapitel 1 .3 ausführlicher eingegangen .

• Proximale Faktoren: Bei den bislang beschriebenen Risikofaktoren handelt es sich – mit Ausnahme der verschiedenen psychosozialen Variablen – größtenteils um distale Faktoren, die nicht zwingenderweise als unmittelbare Auslöser suizidalen Verhaltens zu verstehen sind . Als proximale Faktoren gelten hingegen solche Faktoren, die vor dem Hintergrund bestehender distaler Risikofaktoren das unmittelbare Risiko suizidaler Handlungen erhöhen . Neben der Verfügbarkeit einer potenziell tödlichen Suizidmethode zeigte sich in einer repräsentativen finnischen Studie, dass 80 % der Personen, die einen Suizid begingen, in den drei Monaten vor ihrem Tod vermehrt stressreichen Lebensereignissen ausgesetzt waren: Neben beruflichen Problemen (28 %), familiären Konflikten (23 %) und körperlichen Erkrankungen (22 %) spielten Arbeitslosigkeit (16 %), Trennungen (14 %) und finanzielle Schwierigkeiten (13 %), eine bedeutsame Rolle (Heikkinen, Aro & Lönnqvist, 1994) . Sowohl für Männer als auch für Frauen geht der Tod eines Kindes mit einer stark erhöhten Suizidrate – insbesondere im Folgemonat des Todesfalls – einher (Qin & Mortensen, 2003) . Die Befunde legen nahe, dass als bedeutsam erlebte Verlustereignisse jeglicher Art mit einem erhöhten Suizidrisiko assoziiert sind . Gleichwohl muss bedacht werden, dass die erklärende Kraft belastender Lebensereignisse gering ist, so enden die allermeisten der entsprechenden Erfahrungen nicht mit einem Suizid .

• Protektivfaktoren: Im Gegensatz zur großen Fülle an Untersuchungen zu Risikofaktoren suizidalen Verhaltens haben sich bislang erst vergleichsweise wenige Studien mit Protektivfaktoren, also solchen Variablen, die mit einem geringen Suizidrisiko einhergehen, beschäftigt . Relativ durchgängig zeigte sich, dass verschiedene Indizes sozialer Eingebundenheit, wie z . B . das Leben in einer Ehe und/oder mit Kindern, genauso wie die aktive Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft mit einem reduzierten Suizidrisiko assoziiert sind . Zudem ist das Suizidrisiko während Schwangerschaften reduziert . Darüber hinaus wird schließlich das Vorhandensein von Gründen zu leben, positiven Zukunftserwartungen, Hoffnung, aktiver Therapiebeteiligung, sozialer Unterstützung, Lebenszufriedenheit, Problemlösefertigkeiten und Angst vor Tod und Sterben als prognostisch günstig bewertet (Wenzel et al ., 2009) .

Die Kenntnis von Risikofaktoren sollte dafür sensibilisieren, bei Menschen mit den entsprechenden Merkmalen an die Möglichkeit suizidalen Erlebens und Verhaltens zu denken . Grundsätzlich handelt es sich um statistisch definierte Risiken, die für die entsprechenden Gruppen gelten – nicht aber für jeden einzelnen Menschen, der einer solchen Gruppe angehört, zutreffen müssen . Zudem muss bedacht werden, dass Suizide in der Gesamtbevölkerung eine geringe Auftretenswahrscheinlichkeit haben – ein erhöhtes Risiko entspricht somit nicht zwingend einem hohen Risiko . Vielmehr nehmen sich die allerwenigsten Personen, die ein oder auch mehrere Risikomerkmale haben, das Leben . Auf der anderen Seite kann aber auch das Fehlen von einschlägigen Risikomerkmalen im Einzelfall nicht als sicherer Hinweis für die Abwesenheit suizidaler Gefährdung gewertet werden: Auch junge Frauen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, Kinder haben und Pläne für die Zukunft berichten, können sich das Leben nehmen . Es braucht also immer einer individuellen Risikoabschätzung, die durch das Wissen um Risikofaktoren getragen ist, gleichzeitig aber nicht den Blick für ungewöhnliche Risikokonstellationen verschließt . Eine Übersicht über die verschiedenen Risikofaktoren findet sich in Tabelle 2 .

1.3 Verlauf und Prognose

Ein erster Gipfel hinsichtlich des Auftretens von Suizidgedanken findet sich in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter (Nock et al ., 2008b) . Analysen des WHO World Mental Health Survey verweisen darauf, dass etwa 30 % derjenigen, die jemals Suizidgedanken erlebt haben, auch einen Suizidplan gefasst haben und/oder einen Suizidversuch unternahmen . 56 % derjenigen, die sowohl Suizidgedanken als auch einen Suizidplan berichten, haben auch einen Suizidversuch unternommen . Dabei erfolgen 60 % der Übergänge von Suizidgedanken hin zu einem Suizidversuch innerhalb des ersten Jahres nach Auftreten der Suizidgedanken (Nock et al ., 2008b) – es scheint sich hierbei also um ein besonders risikobehaftetes Zeitfenster zu handeln . Borges et al . (2010) konnten darüber hinaus zeigen, dass Personen, die zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal unter Suizidgedanken gelitten haben, ohne dass sie einen Suizidversuch unternommen haben, ein reduziertes Risiko aufweisen, aktuelle Suizidgedanken in Suizidhandlungen umzusetzen .

Suizidale Krisen können sich in sehr unterschiedlichem Tempo entwickeln . In den meisten Fällen entwickelt sich Suizidalität über einen längeren Zeitraum von eher passiver Lebensmüdigkeit hin zu aktiveren Suizidgedanken und Planungen . Auf der anderen Seite gibt es aber auch die sich sehr schnell aufschaukelnde Lebensmüdigkeit, die rasch und unter geringem Planungsaufwand in suizidale Handlungen umgesetzt wird .

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