Alt werden, ohne alt zu sein - Was heute möglich ist

Alt werden, ohne alt zu sein - Was heute möglich ist

 

 

 

von: Rudi Westendorp

Verlag C.H.Beck, 2015

ISBN: 9783406667633

Sprache: Deutsch

287 Seiten, Download: 2617 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Alt werden, ohne alt zu sein - Was heute möglich ist



SILVER ECONOMY – DAS LEBEN IN REVOLTE


Unser menschliches Leben hat im vergangenen Jahrhundert eine Entwicklung erfahren, die man nur als radikal bezeichnen kann. Vergleichbar mit einer Explosion. Nie zuvor haben so viele Menschen in der westlichen Welt ein so hohes Alter erreicht. Es ist eine tief greifende gesellschaftliche Veränderung, die im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution steht. Innerhalb von hundert Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung von vierzig auf achtzig Jahre, und die Chance, fünfundsechzig Jahre alt zu werden, verdreifachte sich. Auch Pensionäre und Rentner profitierten und profitieren von dieser Wandlung: Sie haben nicht mehr zehn, sondern zwanzig weitere Lebensjahre vor sich. Und dann gibt es noch Madame Calment, eine Französin, die 122 Jahre alt wurde, das war 1997. Die Neugeborenen von heute können auf ein noch längeres Leben hoffen; einer von ihnen wird mit Sicherheit seinen 135. Geburtstag erleben. All diese zusätzlichen Jahre sind uns nicht geschenkt worden, weil sich unser Körper – durch genetische Manipulation oder auf andere Weise – verändert hätte. Nein, unser Körper ist ziemlich gleich geblieben. Unsere stark ansteigende Lebensdauer ist die Konsequenz enormer Umgestaltungen, die wir in unserem Lebensraum bewirkt haben. Anders als früher hat heute jeder Mensch in der westlichen Welt etwas zu essen, aus den Wasserleitungen fließt sauberes Trinkwasser, und sehr viele Infektionskrankheiten sind inzwischen ausgerottet. Auch das Risiko, durch Kriege oder andere Gewalteinwirkungen zu Tode zu kommen, hat sich auf ein Minimum reduziert. Immer weniger Menschen sterben im Kindesalter, fast alle erreichen heute ein hohes Alter. Zudem leben wir länger, weil wir Alterserkrankungen oder Verschleißerscheinungen immer wirkungsvoller behandeln können.

Unsere emotionale und soziale Anpassung an diese Revolution hinkt allerdings noch stark hinterher. Wir sind vollständig in alten Mustern festgefahren. Wer erzieht seine Kinder schon in der realen Erwartung, dass sie hundert werden? Wer nimmt mit einem Schulterzucken hin, wenn der Sohn oder die Tochter eine Klasse wiederholt? Eltern von heute versuchen, ihre Kinder innerhalb von zwanzig Jahren für das Leben zu drillen; stattdessen sollten sie ihnen lieber vermitteln, dass sie permanent weiterlernen müssen, um nicht die Kontrolle über die sich verändernden Lebensbedingungen zu verlieren. Und was werden Sie tun, wenn Ihre Kinder einmal erwachsen sind? Die Zeit, in der man nur lebte und arbeitete, um seine Kinder großzuziehen und danach – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne – in den Ruhestand zu gehen, gehört definitiv der Vergangenheit an. Heutzutage haben Eltern, nachdem ihre Kinder ausgeflogen sind, mit dem Problem zu kämpfen, wie sie dieses lange Leben sinnvoll gestalten sollen. Das ist auch mir, einem Vierundfünfzigjährigen, nicht fremd. Eine längere Lebensdauer ist zum Teil erblich bedingt, und mit einer Großmutter mütterlicherseits, die neunundneunzig wurde, werde ich vielleicht neunzig oder sogar hundert Jahre alt. Was für ein Horror! Was soll ich die kommenden vierzig Jahre bloß tun, mit zwei erwachsenen Töchtern, die ausgezeichnet allein zurechtkommen? Natürlich bin ich froh, dass ich nicht in jungen Jahren gestorben bin, und ich freue mich auch auf ein sorgenfreies Alter. Gleichzeitig sehe ich am Ende des Lebens Gewitterwolken aufziehen, und ich frage mich, ob mich dieses Unwetter wohl verschonen wird. Ein langes Leben ist ein beeindruckender Erfolg, aber zugleich auch eine beängstigende Perspektive. Werde ich ungelenk, taub, mit schlechtem Sehvermögen und inkontinent auf mein Ende zugehen? Oder sind das die üblichen Ängste eines Mannes zwischen fünfzig und sechzig, der meint, dass es von nun an in allem nur noch bergab geht?

Nicht jeder freut sich auf ein langes Leben. Es macht Menschen nervös. Manche sprechen von einer Katastrophe, die über uns hereingebrochen ist. Es zirkulieren Schätzungen, dass von allen Fünfundsechzigjährigen, die je auf Erden gelebt haben, die Hälfte heute zu finden ist. Warum hat niemand die Notbremse gezogen? Die Sicherheiten von ehedem sind Aussichten gewichen, die sich noch nicht klar auf unserer Netzhaut abzeichnen. Es ist alles auch sehr schnell gegangen. Viele von uns denken beim Älterwerden an das Leben ihrer Eltern oder Großeltern wie an ein Schifffahrtszeichen, nach dem sie auf der stürmischen See des Lebens navigieren können. Doch zwischen der Zeit unserer Großeltern und unserer eigenen als Großeltern liegen vier Generationen und etwa hundert Jahre. Deshalb ist es irrig zu meinen, wir könnten aus den Lebensgeschichten unserer Eltern und Großeltern ableiten, wie wir selbst altern werden. Diese Bilder sind für das Leben, das uns bevorsteht, nicht maßgeblich. Wir können von ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zehren, aber leben müssen wir mit dem Blick nach vorn.

Wenn man mit offenen Ohren zuhört, erfährt man von alten Leuten, dass Leben harte Arbeit ist. Altwerden geht mit Verlust einher, manchmal unverhofft und früh, aber immer öfter auch langsam und später. Irgendwie müssen wir uns darauf einstellen und unsere Vorkehrungen treffen. Artur Rubinstein (1887–1982), einem der größten Pianisten der Welt, gelang es bis ins hohe Alter, sein Publikum zu verzaubern. Er kompensierte den Verlust an Fingerfertigkeit, indem er sein Repertoire einschränkte, mehr übte und zu Beginn eines Stückes langsamer spielte, sodass er das Tempo, falls erforderlich, leichter steigern konnte. Glücklicherweise gelingt es älteren Menschen im Allgemeinen gut, sich ihren Funktionsverlusten anzupassen. Sie sind in der Regel mit ihrer Gesundheit zufrieden. Zwei Drittel von ihnen beschreiben den eigenen Gesundheitszustand als gut bis sehr gut. Trotz dieser positiven Einschätzung ist vielen Menschen der Gedanke ein Gräuel, immer älter zu werden: «Wozu soll das gut sein?» Doch es hat keinen Sinn, die Tatsachen zu leugnen. Merkwürdigerweise wird die Frage, ob wir länger gesund bleiben wollen, trotzdem einmütig positiv beantwortet. Dann ruft jeder: «Aber selbstverständlich!» Und gerade dies – länger gesund zu bleiben – gelingt uns immer besser, was eben dazu führt, dass wir auch immer älter werden. Unsere Gesellschaft ist im Hinblick auf den Alterungsprozess nicht weniger wankelmütig. Studenten müssen sich in immer kürzerer Zeit immer speziellere Fertigkeiten aneignen, damit sie für den heutigen Arbeitsmarkt nicht zu alt und zu unangepasst sind. Doch mit der ganzen Rastlosigkeit wird ihre Produktivität langfristig eher ab- als zunehmen. Wenn man erst einmal die fünfzig überschritten hat, sollte man heutzutage besser nicht mehr seinen Arbeitsplatz wechseln. Und sollte man in diesem Alter seine Stelle verlieren, wird es verdammt schwierig, einen neuen Job zu finden. Es gibt so gut wie keine Angebote. Unter Arbeitgebern geht die Mär um, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten von «Senioren» seien eingeschränkt und würden schnell abnehmen. Es sei daher nicht mehr sinnvoll, in deren Körper und graue Zellen zu investieren. Obwohl mancher Unternehmer in der silver economy ungeahnte Chancen sieht – noch nie hat es so viele ältere Menschen gegeben, die durch Arbeit oder Konsum zu unserer Wirtschaft beitragen –, wird gleichzeitig die Überalterung als die Ursache der sozioökonomischen Probleme angesehen, mit denen wir heute zu kämpfen haben. Im Zeitraum von hundert Jahren hat sich die bestehende biologische und gesellschaftliche Ordnung überlebt, diese Ordnung ist reif für eine Revision. Wir müssen unser Leben neu einrichten und es mit den Bedingungen, unter denen wir heute leben, in Einklang bringen. Zögernd beginnt man in den westlichen Ländern damit, das Rentenalter um einige Jahre anzuheben. Vielleicht ist es sogar besser, eine Festlegung des Rentenalters gänzlich abzuschaffen. Es zwingt uns in ein Korsett, in das wir immer schlechter hineinpassen. Weil wir heute länger gesund bleiben als je zuvor, haben wir die Chance, und auch die Verantwortung, unser Leben zu gestalten.

Dieses Buch ist ein TomTom, das uns dabei helfen kann, in dem vor uns liegenden Leben besser zu navigieren. Ich werde aufzeigen, wie und warum sich Menschen im Lauf von Millionen von Jahren ihrer Umgebung angepasst haben. Ich werde auch darstellen, dass es uns stetig besser gegangen ist – so viel besser, dass der Altersaufbau unserer Bevölkerung mittlerweile nicht mehr einer Pyramide gleicht, sondern einem Wolkenkratzer. Damit erhebt sich natürlich die Frage, was wir nun mit diesem langen Leben anfangen sollen. Gelingt es uns selbst, ihm eine Wendung zu geben? Alle sagen, dass es «normal» sei, alt zu werden, dass das «üblich» sei. Aber ist das auch so? Was können wir von Menschen lernen, die extrem lange ein gesundes Leben führen? Hilft es, weniger zu essen oder Hormone, Vitamine und Mineralien zu schlucken? Was können wir von älteren Menschen lernen, die trotz Krankheit und Gebrechen vital im Leben stehen? Wie bewahren sie ihr Wohlbefinden? Natürlich beschäftige ich mich auch ausführlich mit den gesellschaftlichen und politischen Implikationen dieser Explosion von Leben.

All dies betrachte ich durch eine medizinisch-biologisch-evolutionäre Brille. Wie das Buch zeigen...

Kategorien

Empfehlungen

Service

Info/Kontakt