Diagnose Leukämie - Von der Intensivstation auf den Highway

Diagnose Leukämie - Von der Intensivstation auf den Highway

 

 

 

von: Manfred Grimme

Books on Demand, 2016

ISBN: 9783735734273

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 6183 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Diagnose Leukämie - Von der Intensivstation auf den Highway



2. Freunde lässt man nicht warten


In den ersten Tagen meiner Radtour ist - wie erwartet - der Wettergott auf meiner Seite. Temperaturen um 25 Grad, gepaart mit leichtem Rücken- oder Seitenwind, machen das Radfahren auf den mit erstklassigem Asphalt versehenen Seitenstreifen der amerikanischen Highways zu einem besonderen Vergnügen.

Jeder Highway verfügt über einen mehr oder weniger breiten Randstreifen, der von der eigentlichen Fahrbahn durch einen dicken, weißen Strich deutlich sichtbar abgegrenzt wird. Radwege, wie wir sie kennen, sind in den USA nur äußerst selten anzutreffen. Deshalb ist für mich der linke Rückspiegel meine Lebensversicherung, da ich auf diese Weise schon frühzeitig erkennen kann, ob nicht gleich ein schwerer Truck mit hohem Tempo dicht an mir vorbeidonnern wird. Ein solches Überholmanöver ist kein risikofreies Unterfangen, weil auffällig viele Amerikaner während dem Fahren permanent ihr Handy am Ohr haben. Aber auf der anderen Seite profitiere ich von jedem Überholvorgang, da sich durch die ungeheure Sogwirkung meine augenblicklich gefahrene Geschwindigkeit kurzfristig um mehrere Stundenkilometer erhöht.

Die Landschaft in Florida ist doch nicht so topfeben, wie ich dies noch in Erinnerung hatte. Eher leicht gewellt, wobei Brücken gewiss einen beträchtlichen Anteil an den 1.400 Höhenmetern haben, die ich hier in Florida erklimmen. Je weiter ich die städtischen Bereiche nun hinter mir lasse, desto geringer wird das Verkehrsaufkommen und ich genieße die Wiesen, Weiden und Wälder, die an meinem Weg liegen.

Als mir mein Navigationssystem mitten im Ocala National Forest akustisch zu verstehen gibt, dass ich nun den Highway 40 verlassen müsse, um zum Zeltplatz des Juniper Springs Recreation Areas zu gelangen, schweifen meine Gedanken unweigerlich sieben Jahre zurück, als meine Frau und ich mit unserem eigenen Wohnmobil hier zwei unvergessliche Tage verbracht hatten.

Und im gleichen Moment ist mir wieder diese ziemlich heikle Situation gegenwärtig, als wir während einer abenteuerlichen Kanu-Tour irgendwo hier in der Wildnis kenterten, das Boot voll Wasser lief und wir bis in Brusthöhe im Wasser standen. Der nächste Alligator lag keine hundert Meter entfernt, gleich hinter der nächsten Flussbiegung am Ufer.

Hier in diesem Park gönne ich mir einen Ruhetag, stehe aber dennoch bei Sonnenaufgang auf und miete erneut ein Kanu. Über dem Quelltopf liegt dichter Bodennebel, Spanisches Moos hängt von hohen Eichen herab, taubehaftete Palmwedel glänzen im ersten Sonnenlicht und überall im Quellbereich steigen blubbernd große Wasserblasen aus dem Erdinnern empor an die Oberfläche. Insgesamt eine gespenstisch anmutende Szenerie.

Es herrscht eine ungewohnte Stille, als ich das metallene Kanu mit einem zweirädrigen Karren über den langen, glitschigen Holzsteg schiebe und zu Wasser lasse. Dann nehme ich Platz und gehe „Lost in Nature“. Keine menschlichen Stimmen, kein Straßenlärm - nur ich, das Kanu und der schmale Bachlauf, der aber nach wenigen Kilometern immer breiter und tiefer wird.

Muss ich mich anfangs immer wieder rücklings flach ins Kanu legen, um umgefallenen Baumstämmen auszuweichen, so verlasse ich im weiteren Verlauf den dichten dschungelähnlichen Wald und stoße in eine offene Wiesenlandschaft vor. Mehrere Alligatoren beobachten regungslos mein Treiben, aufgescheuchte Reiher flüchten kreischend ins Hinterland, während zutrauliche Wasserschildkröten Bilder aus nächster Nähe erlauben.

Nach fast fünf Stunden passiere ich eine Brücke am Highway 19 und erreiche rechts die ausgewiesene Anlegestelle. Wenig später bringt mich der Ranger wie vereinbart wieder zurück zum Park. Ein wirklich tolles Naturerlebnis!

Millionen kleinster Wassertropfen schweben im hellen Schein meiner Stirnlampe, als ich etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang packe und mein Zelt abschlage. Auf Grund der extremen Luftfeuchtigkeit sind Zelt und Radtaschen außen erneut völlig nass. Selbst der untere Bereich des Daunenschlafsacks hatte während der dampfigen Nacht Feuchtigkeit gezogen, da dieser mit dem Innenzelt in Berührung gekommen war. Gott sei Dank trage ich sehr gutes Schuhwerk. Meine Goretex-Schuhe bewähren sich im nassen Gras und Laub hervorragend. Trotz der Dunkelheit und der Nässe bin ich heute schon nach gut einer Stunde reisefertig. Das Frühstück spare ich mir erneut. Ein paar Kekse und etwas Wasser sollten für das Erste reichen. Viel wichtiger wäre mir eine WLAN-Verbindung. Hoch motiviert geht es nun westwärts zum Panhandle an den Golf von Mexiko.

In den ersten Tagen bin ich noch überzeugt davon, dass meine Entscheidung absolut richtig war, die Strecke von Ost nach West zu fahren.

Tolles Wetter, nur wenige anstrengende Steigungen und gut asphaltierte Straßen, recht hohe Durchschnittsgeschwindigkeiten und allerbeste Stimmung. Morgens schalte ich das Navigationssystem ein, wähle schnell den nächsten einprogrammierten Wegepunkt meiner Tour und der Rest geht fast von alleine. Alles scheint so „easy“ zu sein.

Doch meine Euphorie sollte bald einen ersten Dämpfer erhalten. Weil das Wetter schlechter werden soll, beschließe ich, mein eigentliches Ziel – den Ochlockonee River State Park – links liegen zu lassen und radle am siebten Tag auf dem Highway 98 West bis hinunter an die Golfküste nach Carabelle. Hier an der Küste stehen die bunten Häuser auf hohen Pfählen, damit sie bei einem drohenden Hurrikan mit nachfolgender Sturmflut nicht überschwemmt oder weggerissen werden. Ich selbst tausche heute mein Zelt gegen eine bequeme Holzhütte mit Dusche ein, da mir der Campingplatz-Verwalter im Preis entgegenkommt. Auch im Internet sehe ich nun, dass mir morgen wettertechnisch nichts Gutes ins Haus stehen wird. Eine Front aus Westen wälzt sich geradewegs auf mich zu. Ausgerechnet jetzt, wo ich direkt an der Küste entlang fahren möchte. Einen Ruhetag in Carabelle kann ich wegen des Wetters jedoch nicht einlegen, hatte ich doch Eddy und seiner Frau Susan zugesagt, dass wir uns morgen im St. Joseph Peninsula State Park treffen werden.

Zum Fahren verdammt. Es ist kurz nach sieben, als für mich der Horrortrip beginnt. Zuerst ist es nur der Nieselregen, aber bald frischt der Wind spürbar auf. Auf der US 98 erreiche ich dann bei Eastpoint eine Meeresbucht mit einer über sieben Kilometer langen Brücke, die es jetzt am frühen Vormittag zu queren gilt. Inzwischen hat der starke Westwind Sturmstärke erreicht. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nur acht Stundenkilometern kämpfe ich auf der Brücke gegen die Naturgewalten an, den Böen hilflos ausgeliefert. Und nur mit viel Mühe gelingt es mir, halbwegs die Spur zu halten. Urplötzlich fliegt auf der Gegenfahrbahn ein Radrennfahrer an mir vorüber, kurz die Hand zum Gruß erhebend. Seinen Gruß kann ich jedoch nicht erwidern, umklammere ich doch mit beiden Händen krampfhaft den Lenker, in der Angst, nicht gleich rechts über die niedere Beton-Brüstung geweht oder links auf die Fahrbahn gedrückt zu werden. Im weiteren Verlauf bis hin zum St. Joseph State Park wird der Trip schließlich zum Alptraum. Als ich endlich die schmale Landzunge erreiche, auf der der State Park liegt, sind eigentlich nur noch zwanzig Kilometer auf einem Radweg zurückzulegen.

Ich aber könnte heulen, peitscht doch der Sturm permanent vom Meer kommend über die niederen Sanddünen hinweg. Mehrfach werde ich von einer plötzlich über mich hereinbrechenden Böe erfasst und in den mit Schilf bewachsenen Seitengraben abgedrängt.

In exponierten Lagen hilft tatsächlich nur noch absteigen und schieben. Ich komme mir vor wie der Sandmann – Ohren, Augen, Nase, überall feinster Sand, obwohl ich mir mein Schlauchtuch tief ins Gesicht gezogen hatte.

Mehrere meiner unbeholfenen Fahrversuche scheitern kläglich. Neunzig Kilometer in den niedersten Gängen zu fahren, ist so furchtbar frustrierend, dass ich am liebsten sofort das nächstbeste Motel aufsuchen würde.

Aber das bevorstehende Wiedersehen mit Eddie und Susan mobilisiert dann doch noch allerletzte Kräfte.

Zumindest aber hält trotz dieser Ochsentour mein seit Jahren angeschlagenes linkes Knie auch nach den bislang sechshundert gefahrenen Kilometern der hohen Belastung stand.

Juni 2005

Wenn Sie mit sechzig kein künstliches Kniegelenk haben möchten, dann hören Sie mit dem Joggen lieber auf.

Diese mahnenden Worte des Orthopäden brannten sich tief in mein Gedächtnis ein. Vor gut sieben Jahren war das Knie ohne äußere Einwirkung urplötzlich angeschwollen, während ich gemütlich auf der Couch im Wohnzimmer lag und ein Fußball-Länderspiel im Fernsehen verfolgte.

Ein Außenstehender hätte wohl vermuten können, ich hätte aktiv am Spielgeschehen teilgenommen, denn das Knie war so dick, dass ich es kaum noch beugen konnte. Diverse kühlende Sportgels, auch die Pferdesalbe des Nachbarn, verfehlten ihre Wirkung. Erst die Kernspintomographie in der Klinik förderte eine fortgeschrittene Arthrose ans Tageslicht. Zuvor vermuteten die Ärzte eine rheumatische Erkrankung, da das Knie keinerlei sichtbare Verletzungen aufwies. So wurde ich bald aus dem Krankenhaus entlassen und war eigentlich ganz guter Dinge, dass die Schwellung des Gelenkes rasch wieder verschwinden würde. Doch die Tage vergingen, ohne dass sich meine Hoffnungen erfüllten. Noch immer benötigte ich Krücken zum Laufen.

Etliche Tage später saß ich gerade auf der Terrasse, das Knie in Schonhaltung und dick mit einer Salbe konserviert, als ein besorgt klingender Anruf aus dem Krankenhaus wenig Gutes erahnen ließ.

...

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