'Gesunde Lebensführung' – kritische Analyse eines populären Konzepts

'Gesunde Lebensführung' – kritische Analyse eines populären Konzepts

 

 

 

von: Hans-Wolfgang Hoefert, Christoph Klotter

Hogrefe AG, 2011

ISBN: 9783456949963

Sprache: Deutsch

313 Seiten, Download: 3159 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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'Gesunde Lebensführung' – kritische Analyse eines populären Konzepts



Diätetik und gesunde Lebensführung in der Antike
Florian Steger

Einleitung

Essen und Trinken, kurzum die Ernährung, stecken ein weites Feld kulturgeschichtlicher Forschung ab. Schon in der Antike wurde der Ernährung große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Im Laufe der Jahrhunderte bildet sich ein antikes medizinisches Verständnis aus, das einen hohen Anspruch an Gesundheit stellt. Sportliche Wettkämpfe hatten große Bedeutung, und dementsprechend bestand ein starker Wunsch nach körperlicher Schönheit und Kraft. Bei der Verwirklichung dieses Anspruchs spielt die antike Diätetik eine wesentliche Rolle. Der griechische Begriff der diaitetike, der zunächst nur eine reine Ernährungslehre meint, erfährt im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung und bezeichnet schließlich ein umfassendes Konzept gesunder Lebensführung. Das antike Diätetikverständnis unterscheidet sich also substantiell vom heutigen Verständnis der Diätetik als angewandter Ernährungswissenschaft (vgl. dazu auch Steger 2004).

1. Ganzheitliche und individuelle Medizin.

Der antike Wunsch nach einem umfassenden Gesundheitsverständnis findet bis heute seine Entsprechung in den Gesundheitsbedürfnissen von Patienten und rückt in Zeiten einer modernen Apparatemedizin mehr und mehr ins Zentrum der Überlegungen. Patienten verlangen nach einer „sprechenden“ Medizin, in der mehr Zeit für den Einzelnen aufgewandt wird. Auch wollen Patienten nicht nur, dass ein kuratives Angebot zur Verfügung steht. Vielmehr werden präventive, salutopädagogische sowie salutogenetische Angebote vermehrt nachgefragt. An diesem Bedürfnis setzen komplementärmedizinische Angebote – wie Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie, Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und viele andere mehr – an. Im Grunde stehen diese therapeutischen Ansätze damit ganz in antiker Tradition, in welcher Diätetik einen Lebensstil der grundsätzlichen Ausgeglichenheit meinte. Im Jahr 1947 definierte die World Health Organization (WHO) Gesundheit als einen Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Damit wird Gesundheit nicht ex negativo durch die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche definiert, sondern positiv formuliert. Bemerkenswert ist, dass auch schon der antike medizinische Diskurs einer solch umfassenden und vielschichtigen Definition von Gesundheit nahe steht: richtet die primäre Referenz an eine Gesundheitslehre und nicht an eine Krankheitslehre, ihn prägen von Anfang an kosmologische und anthropologische Überlegungen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Lehre des griechischen Arztes Galen im kaiserzeitlichen Imperium Romanum verständlich. Denn sie ist von eben dieser umfassenden Perspektive geprägt, deren logische therapeutische Konsequenz letztlich die Prävention ist. Diese ganzheitliche medizinische Theorie kann die Bedeutung der Ernährung in ihrem Wechsel-verhältnis zu Philosophie und Medizin illustrieren (v. Engelhardt 1993, Schipperges 1993). Ludwig Edelstein schreibt hierzu im Jahr 1931, ohne dabei den Unterschied zwischen Ernährung und Lebensweise zu definieren: „Erkennt man aber, daß der Kranke durch eine richtig geordnete Lebensweise gesund werden kann, so muß man schließen, daß der Gesunde durch eine falsche Lebensweise krank werden kann, weil ja offenbar die Lebensweise den Zustand des Körpers zu bestimmen vermag. Wer gesund bleiben will, muß also richtig zu leben wissen. Diese Erkenntnis gilt, nachdem sie einmal gewonnen war, für alle Jahrhunderte des Altertums unbestritten als richtig.“ (Edelstein 1931, S. 162).

2. Die Ursprünge der Diätetik

Die rational-wissenschaftliche, also die auf Naturbeobachtung und vernunftgemäßem Naturverständnis basierende Medizin der Antike unterscheidet drei mögliche Formen der Therapie: (1) Die Applikation von Pharmaka, (2) das Handanlegen durch einen chirurgischen Eingriff und (3) die Diätetik, deren Ziel die Erziehung des Menschen zu einer gesunden Lebensweise ist. Erste Überlegungen, die zur Grundlegung diätetischer Theoreme führen, sind auf die frühesten Vertreter der abendländischen Philosophie zurückzuführen; gemeint sind die Vorsokratiker, die etwa zwischen 600 und 400 v. Chr. wirkten. Zuerst sind hier die Pythagoreer zu nennen, die Wert auf eine Symmetrie von Essen und Trinken und auf die Zubereitungsform der Speisen und Getränke legen; sie unterscheiden auf dieser Grundlage zwischen gesund und krank. Zur Einführung der Diätetik kommt es dann durch Herodikos von Selymbria. Zwar sind erste Ansätze einer medizinischen Praxis bereits viel früher in den homerischen Epen bezeugt, der Aspekt der Diätetik fehlt hier allerdings noch ganz. Dass es in dieser Zeit nur eine rudimentäre Pharmazeutik und keine Diätetik gibt, lässt sich durch das homerische Menschenund Götterbild erklären: Krankheitsbilder gelten als durch Götter verursacht und folglich als nur durch Götter therapierbar. Die Vorsokratiker hingegen entwickeln erstmals anhand von Naturbeobachtungen ihre Vorstellungen von der Funktionsweise des Makrokosmos. Sie ragen nach den natürlichen Ursachen der beobachteten Phänomene und formulieren davon ausgehend die ersten Gesetzmäßigkeiten (Kudlien 1967, Wittern 1996). In der Natur ablaufende Prozesse werden beschrieben als Trennen und Absondern, Hinzufügen und Mischen gewisser Grundstoffe. Die Beziehung und das Verhältnis dieser Grundstoffe zueinander bestimmt dann darüber, wie sich alles Weitere zusammensetzt.

Die Einheit von Werden und Vergehen wird in seinen Schattierungen als natürlicher Vorgang verstanden. Dieser Vorgang wiederum wird von Elementen bestimmt, welche in jeweils unterschiedlicher Ausprägung zugrunde liegen. Hierbei wird in Anlehnung an empedokleische Theorien immer wieder die Vierzahl hervorgehoben: Nach Empedokles ist alles aus den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde entstanden, denen wiederum die vier Erscheinungen Sonne, Himmel, Erde und Mond zuzuordnen sind. Die beiden Grundkräfte Liebe und Streit mischen und trennen die vier Elemente, so dass Zeugung und Trennung entstehen. Diese Auffassung wird im Weiteren ergänzt durch die vier Qualitäten feucht, trocken, kalt und heiß sowie die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Ihre für den Makrokosmos gewonnenen Ergebnisse übertragen die Vorsokratiker in einem zweiten Schritt auf den Mikrokosmos Mensch, um erklären zu können, wie Gesundheit und Krankheit entstehen. Göttliches Einwirken spielt hierbei keine Rolle mehr – es sind also die Vorsokratiker, welche die Grundlage für ein Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Naturvorgang legen (Wittern 1996, Longrigg 1999).

Unter den Vorsokratikeren ist Alkmaion von Kroton ein herausragender naturphilosophischer Vertreter, der die allgemeine Idee der Gleichheit (isonomia) als Inbegriff der Gesundheit bezeichnet und mit dieser Feststellung am Beginn eines medizinischen Diskurses um humoralpathologische Vorstellungen steht. Ihm zufolge konstituieren die Gleichheit der Qualitäten feucht – trocken, kalt – warm und bitter – süß sowie die Gleichheit aller weiteren Gegensatzpaare Gesundheit. Das Überwiegen (monarchia) einer Qualität gegenüber der jeweils anderen zieht hingegen Krankheit nach sich. Alkmaion verwendet in seinem Erklärungsmodell bewusst die beiden politischen Begriffe isonomia und monarchia, um eine Analogie vom individuellen Organismus zum Staatskörper zuzulassen. Gesundheit und Krankheit werden in diesem Zusammenhang zum ersten Mal als natürliche Prozesse verstanden und folglich mit natürlichen Mitteln zu beeinflussen versucht. Es sind also philosophische Überlegungen, die erste Grundlegungen eines medizinischen Konzepts möglich machen. Theoretische Fundierung und wissenschaftliche Analyse von Seiten der Naturphilosophen führen zur Herausbildung erster medizinischer Theorien, und Heilkunst wird als ein Teil der Philosophie gesehen.

3. Diätetik als Lebensstil

Zunächst ist unter Diätetik eine reine Ernährungslehre zu verstehen: die Applikation aufeinander abgestimmter Nahrungsmittel, die in unterschiedlicher Konsistenz (flüssig, breiig, fest) zubereitet werden können [Hipp. Vet. med. 5 (1, 580-582 L.); Lonie 1977]. Korrekt ausbalanciert kann Ernährung präventiv oder korrigierend wirken, indem sie die Harmonie des Körpers aufrechterhält beziehungsweise wiederherstellt.

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