Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft

Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft

 

 

 

von: Stephan Marks

Gütersloher Verlagshaus, 2010

ISBN: 9783641050238

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 357 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Würde des Menschen oder Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft



"KAPITEL 3: MENSCHENWÜRDE UND DIE BEZIEHUNG ZU SICH SELBST (S. 78-79)


Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.
(Ödön von Horvath)  

Im Jahr 2004 stellten die Bürgerinitiativen Aktion Gemeinsinn e.V. und BürgerKonvent e.V. ihre Kampagne »Beweg Dich. Damit sich was bewegt« vor. Ziel ist es, die staatsbürgerliche Verantwortung der Deutschen zu stärken. Die Bürgerinnen und Bürger sollen durch die Aktion, so die Selbstdarstellung, »mit konkreten Beispielen zu eigenem praktischen Handeln ermutigt werden. Ziel ist eine Bürgergesellschaft, in der jeder Einzelne mehr Verantwortung übernimmt und sich selbst aktiv einmischt, einen ganz persönlichen Beitrag dazu leistet, dass sich die Gesellschaft zum Positiveren verändert.«

Prof. em. Dr. Carl-Christoph Schweitzer, der Vorsitzende der Aktion Gemeinsinn, erklärt: »Damit sich in diesem Land wieder etwas bewegt, muss jeder Einzelne von uns über seinen eigenen Schatten springen und mehr Engagement und Mut zeigen. Auch wenn es schwerfällt. Doch es lohnt sich - für jeden Einzelnen von uns.« Die Kampagne besteht in einer Reihe von Plakaten, die bundesweit als Anzeigen in die Medien gebracht werden. Sie zeigen jeweils eine Person, die sich selbst bzw. ihren Schatten schlägt, tritt oder an den Haaren zieht und als »faulen Sack«, »Dumpfbacke« oder »Meckerliese« beschimpft.

Dies ist eines der Plakate:Die Aktion steht ganz in der unheilvollen Tradition der schwarzen Pädagogik und deren Strategie, wonach Menschen dadurch zu verbessern seien, dass sie beschämt werden bzw. sich selbst beschämen. Ich halte solche Plakate für kontraproduktiv, weil sie die Probleme, die zu beheben sie beanspruchen, nur noch verschlimmern. Probleme gesellschaftlichen Zerfalls sind nicht dadurch aufzuhalten, dass die Bundesbürger mit noch mehr Scham erfüllt werden. Der Ausweg besteht vielmehr darin, dass die Menschen sich ihre Scham eingestehen und bewusst machen.

Auf diesem Weg können sie wieder Zugang zu ihren kreativen Potenzialen bekommen, die wiederum in die Gesellschaft einfließen. Aufarbeiten der Scham ist notwendig, weil in jeder Begegnung, in jeder Arbeit mit Menschen die eigene Scham-Geschichte aktualisiert werden kann. Wenn wir diese nicht kennen, besteht die Gefahr, dass wir unser eigenes Scham-Schicksal am anderen wiederholen; dass wir dem »Du« das antun, was uns in unserer Vergangenheit selbst angetan wurde. Dass wir uns so verhalten, wie wir es - aufgrund des »heimlichen Lehrplans« von Erziehung, Schule, Hochschule, Ausbildung, Militär usw. - einst erlernt haben.

Diese Gefahr der Wiederholung kam vor einiger Zeit während eines Fortbildungstages mit dem Kollegium eines Gymnasiums zur Sprache. Das Thema des Seminars lautete: »Von Scham und Beschämung zu einer Pädagogik der Anerkennung und Menschenwürde.« Nach etwa einer Stunde meldete sich einer der mehr als 50 Teilnehmenden, ein älterer Lehrer, zu Wort und sagte: »Als ich vom Thema dieses Seminars hörte, war ich sehr skeptisch.

Aber eben ist mir bewusst geworden, wie sehr ich als Schüler unter dem beschämenden Verhalten meiner Lehrer gelitten habe und dass ich dasselbe die ganzen Jahrzehnte als Lehrer mit meinen Schülern wiederholt habe.« Nicht-beschämende Kommunikation kann man sich jedoch nur bedingt vornehmen; oberflächlich verstandene Freundlichkeits-Trainings sind nur begrenzt hilfreich. Denn wie bei guten Vorsätzen an Silvester-Abenden besteht die Gefahr, dass alte Verhaltensmuster, die von Kindheit an eingeübt wurden, sich als resistenter erweisen. Die Gefahr der Wiederholung ist umso größer, wenn wir selbst ausgebrannt sind oder unter Stress stehen, vor allem dann, wenn wir selbst missachtet oder beschämt werden. Daher ist es notwendig, sich die eigenen Prägungen im Umgang mit Scham bewusst zu machen und aufzuarbeiten. Auf diesem Weg können beschämende Verhaltensmuster verlernt und andere, wertschätzende Beziehungen erlernt werden. Dieser Lernprozess sollte m. E. fester Bestandteil in der Ausbildung aller Berufe werden, in denen mit Menschen gearbeitet wird.

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