Die Inder - Porträt einer Gesellschaft

Die Inder - Porträt einer Gesellschaft

 

 

 

von: Sudhir Kakar

C.H.Beck, 2006

ISBN: 9783406549694

Sprache: Deutsch

207 Seiten, Download: 928 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Die Inder - Porträt einer Gesellschaft



Die indische Frau: Tradition und Moderne (S. 46)

Indien war und ist noch immer eine patriarchale Gesellschaft, in der Frauen sich im Allgemeinen unterzuordnen haben und entmachtet sind. Indische Frauen aber ausschließlich aus einem patriarchalischen Blickwinkel heraus zu betrachten, würde ein Bild hervorbringen, das, oberflächlich gesehen, dem von Frauen anderer patriarchaler Gesellschaften gleicht – und zwar nur deshalb, weil das Bild ungenau und verschwommen ist. Richtet man den Blick aber mit einem «Vergrößerungsglas» auf die indische Kultur mit ihren gegenwärtigen Veränderungen, wird das Bild klarer und nuancierter, da nun auch unerwartete Details, die den Vorstellungen eines Patriarchats entgegenstehen, herausstechen. Parallelen zu Frauen anderer patriarchaler Gesellschaften sind zwar nicht verschwunden, aber es stellt sich ein stärkeres Gleichgewicht zwischen den Gemeinsamkeiten und den zum Teil erheblichen Unterschieden ein.

So übertrumpft beispielsweise in Indien fast immer die Kaste das Geschlecht in dem Sinne, dass eine hochkastige brahmanische Frau einen höheren Status genießt als ein niedrigkastiger Mann. Oder, um ein anderes Beispiel zu geben, die machtvolle Rolle, die Muttergöttinen in der kulturellen Vorstellungswelt Indiens spielen, durchdringt männliche Do minanz mit emotionalen Schattierungen von Angst, Ehrfurcht, Sehnsucht, Hingabe etc., die in der begrenzten Palette patriarchaler Erklärungs muster gewöhnlich fehlen. Das Zusammenspiel universeller pa triar cha ler Werte indischer Kultur und historischer Veränderungen im Verlauf der Begegnung Indiens mit dem Westen zeigt sich am deutlichsten bei den modernen, städtischen Frauen Indiens.

Die ökonomische Öffnung Indiens, sozialpolitische Veränderungen in den Metropolen sowie der Einfluss der Medien und modernster Technologien gehen einher mit einer rasanten Umstrukturierung der gesellschaftlichen Ordnung. Die Herausbildung einer beachtlichen Mittelklasse in den letzten Jahrzehnten wird als der entscheidende Faktor in der fortlaufenden Transformation der indischen Gesellschaft betrachtet. Bedenkt man, dass wir bei der indischen Mittelklasse von einer Gruppe von 200 bis 300 Millionen Menschen reden – ungefähr einem Fünftel der indischen Gesellschaft –, so wird deutlich, dass man eigentlich von den Mittelklassen im Plural sprechen müsste. Entsprechend ist die Mittelklasse nicht überall im Land gleich: Im Süden des Landes nehmen Frauen mehr am Leben ihrer Männer teil als im Norden, die kleineren Städte sind im Allgemeinen traditioneller als die großen Metropolen, selbst wenn Sexumfragen in Zeitschriften sie regelmäßig als Horte sexueller Experimente umschreiben. Trotz alledem sind die Gemeinsamkeiten, die Männer und Frauen der Mittelklasse teilen, größer als die Trennlinien von Kaste, Sprache oder der Region. Innerhalb dieser sich ausweitenden Mittelklasse, die überwiegend städtisch und gebildet ist, ist es die Frau, die zum Zentrum der Veränderungen in der indischen Gesellschaft wird.

Gefangen im Kreuzfeuer unterschiedlicher Ideologien, mit denen einerseits die traditionellen Vorstellungen indischer Weiblichkeit verteidigt werden und andererseits Frauen von dem befreit werden sollen, was als Ungleichheit und Einengung eines religiös sanktionierten Patriarchats betrachtet wird, ist die moderne indische Frau – in dem Bemühen, traditionelle Ideale mit modernen Zielen zu vereinbaren – zwischen zwei sich widersprechenden Kräften ihrer Psyche hin- und hergerissen. Auf die Kritik, die ihr sowohl von der extremen Linken als auch vom rechten politischen Spektrum entgegengebracht wird, kann sie mit Goethes Faust antworten:

«Du bist dir nur des einen Triebs bewusst,

Oh lerne nie den anderen kennen!

Zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust,

Die eine will sich von der anderen trennen».

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