Schreiben über mich selbst - Spielformen des autobiografischen Schreibens

Schreiben über mich selbst - Spielformen des autobiografischen Schreibens

 

 

 

von: Hanns-Josef Ortheil, Hanns-Josef Ortheil

Duden, 2014

ISBN: 9783411909117

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 1608 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schreiben über mich selbst - Spielformen des autobiografischen Schreibens



Textprojekte und Schreibaufgaben II: Ego-Dokumente schriftlich

6. Kommentieren

Ein großes Werbeplakat in der Metro: eine Männerhand mit gepflegten, sauberen, ordentlichen, runden, gefeilten Fingernägeln streicht Butter auf eine Scheibe Brot. Das ist …30

Die Textprojekte der mündlichen Ego-Dokumente sind ein guter Einstieg für die Gewinnung einer großen Fülle von autobiografischem Material. Einer ihrer Vorteile besteht darin, die schriftliche Fixierung zunächst einmal zu vernachlässigen: kein langes Überlegen, ob dieses oder jenes Wort treffender wäre, keine Gedanken an Stil, Rhythmus und Ausdruck. Die mündliche Version sollte vielmehr das eigene Reden und Sprechen möglichst unverkrampft und unverstellt dokumentieren: So spreche ich, so drücke ich mich aus, das ist eben so meine Art.

Diese besondere Art des Redens ist unverwechselbarer Teil der Dokumente, durch sie charakterisiert der Sprecher oder die Sprecherin sich zu einem erheblichen Teil selbst. Das Reden hat einen bestimmten Klang, ein bestimmtes Tempo, und die Wortwahl bezeugt eine bestimmte (soziale und individuelle) Herkunft. Über solche Besonderheiten, die ein Menschenleben in enormem Maße kennzeichnen und prägen, denkt man aber nicht lange nach. Dabei steckt in allem, was man sagt, ein großes autobiografisches Potenzial. Das Problem der bloß mündlichen Dokumente besteht darin, dass man dieses Potenzial meist nicht in seiner Prägnanz bemerkt und es deshalb erst recht nicht ausbaut oder entwickelt.

Die folgenden Textprojekte der schriftlichen Ego-Dokumente haben nun genau diese Aufgabe. Mit ihrer Hilfe wird ein Sprecher oder eine Sprecherin angeleitet und gebeten, Besonderheiten des eigenen Wahrnehmens und Ausdrucks genauer zu formulieren und sich dann selbst (mehr oder minder direkt) nach den autobiografischen Hintergründen zu befragen.

Als ich an einem »Diner« teilnahm, befand ich mich in Gesellschaft von mir unbekannten Tischgenossen. Und sehr schnell begann ich mich zu langweilen. So versuchte ich herauszufinden warum, und ich glaubte Folgendes zu entdecken …31

Beginnen wir mit dem Kommentieren. Was oder wer soll kommentiert werden? Prinzipiell alles, was uns täglich in irgendeiner Form auffällt und beschäftigt: eine Unterhaltung in einem Lebensmittelgeschäft, eine Werbung in der U-Bahn, eine Nachricht in den Medien, eine Lektürestelle in einem Buch, eine Szene in einem Film. Dabei sollte es immer einen bestimmten Impuls geben, der unsere Aufmerksamkeit anzieht. Für ein paar Sekunden sind wir wacher als sonst: Wir schauen hin, unser Blick bleibt an einem Detail hängen – und wir reagieren.

Heute Morgen habe ich mit der Post einen Button bekommen: »Ich bin intellektuell, warum Sie nicht?« Ich stelle mir sofort vor, gut sichtbar einen anderen Button zu tragen: »Kümmern Sie sich nicht um mich.«32

Hinschauen, reagieren, kommentieren – das macht die kompositorische Trias von Mini-Erzählungen aus, die allesamt das autobiografische Potenzial wecken. Ein Meister dieser Mini-Erzählungen war der französische Schriftsteller und Kulturtheoretiker Roland Barthes (1915–1980), der von Dezember 1978 bis März 1979 im »Nouvel Observateur« wöchentlich eine Sammlung von kurzen Texten veröffentlichte, die Entdeckungen in seiner Lebenswelt kommentierten.

Barthes glaubte an die Schönheit der Kürze. Die Texte sollten kein langes Nachdenken ausstellen, sondern eine Reaktion oder eine Verwunderung, und außerdem sollten sie zeigen, wie er selbst auf ein plötzliches Erlebnis mit einer knappen Geste reagiert:

Die gesuchte Form ist eine kurze, oder wenn man so will, eine sanfte Form: weder der feierliche Ton der Maxime noch die scharfe Strenge des Epigramms; etwas, das zumindest annäherungsweise an das japanische Haiku, die joyceschen Epiphanien, den Tagebucheintrag erinnern soll: kurz, eine bewußt mindere Form …33

Während Barthes an solchen Texten schrieb, wurde ihm das autobiografische Potenzial, das in ihnen steckte, mit der Zeit immer deutlicher. Es zeigte sich dadurch, dass er an sich selbst plötzlich eine gewisse Stimmenvielfalt entdeckte. Wie bei einem Schreibexperiment, notiert er,

sind diese Chroniken für mich eine Art und Weise, (natürlich ohne es vorher zu sagen) die völlig verschiedenartigen Stimmen sprechen zu lassen, aus denen ich zusammengesetzt bin. In gewissem Sinne schreibe nicht »ich« sie, sondern eine manchmal widersprüchliche Sammlung von Stimmen …34

Kommentieren sollten wir genau in diesem Sinn. Wir sollten hellwach auf alles reagieren, was wir erleben oder was uns von außen zugetragen wird. Beschäftigt uns etwas besonders stark, sollten wir unseren ersten Eindruck möglichst spontan und knapp aufzeichnen. Weiter sollten wir unsere Reaktion dokumentieren und vermeiden, zu einem abrundenden Urteil (oder gar einer moralischen Wertung) zu kommen. Es geht um den Kommentar eines Moments und das, was dieser Kommentar indirekt (als bloße Geste) über uns aussagt. Es geht aber (noch nicht) um eine bewusstere Verarbeitung dessen, was mir an meinen Reaktionen und Kommentaren so alles deutlich wird.

Am Ende seines Experiments hat Roland Barthes bemerkt, dass er selbst begann, in die Falle der moralischen Urteile zu laufen. Er wollte nicht mehr »nur« reagieren, sondern auch »etwas behaupten«. In diesem Stadium brach er sein Experiment ab:

Die Unzulänglichkeit besteht darin, daß ich mich bei jedem geschilderten Zwischenfall veranlaßt fühle (durch welche Kraft – oder durch welche Schwäche?) ihm einen (sozialen, moralischen, ästhetischen) Sinn zu verleihen, eine letzte Gegenrede zu geben. Kurz, diese Chroniken laufen ständig Gefahr, »Moralitäten« zu sein, und damit bin ich unzufrieden.35

Derartige »Abrundungen« hätte Barthes vielleicht vermeiden können, wenn er seine kleinen Chroniken noch kürzer gefasst hätte. Heutzutage bietet das Twittern eine solche genau begrenzte Kürze an.36 Auch die Twitter-Meldung ist eine Reaktion auf die Jetztzeit und ein Kommentar ihrer fortlaufenden Ereignisse, muss sich jedoch auf 140 Zeichen beschränken.

Solche Tweets haben oft etwas von Aphorismen früherer Zeiten. Sie wollen cool und witzig sein und um jeden Preis verblüffen. Ada Blitzkrieg, Jungautorin aus Berlin-Kreuzberg, twittert alle paar Stunden Meldungen wie diese:

Einer im Freundeskreis ist immer der Salamibrote-Typ, der an alle denkt./Toblerone ist der Stegosaurus des Schokoladenreichs./Die Erfindung der Tiefkühlpizza ist meine persönliche Mondlandung./ Avocado ist das Prenzlauer Berg Snickers./ Wurst ohne Besteck essen ist auch FKK./ Gefühle sind wie Kopfhörer. Eine Minute nicht aufgepasst und schon sind sie verknotet.37

Das Angenehme an solchen Kurzkommentaren ist, dass sie das alte Ich, das sondiert und behauptet, vergessen lassen. Dieses Ahnen-Ich verschwindet hinter den Mitteilungen, denn Prägnanz und schlagende Dichte der Meldung sind wichtiger als die Ausstellung eines Ichs. Deshalb ähneln sich gute Tweets so sehr. Sie machen den Verfasser unsichtbar und sind ein puristisches Sprachereignis, durchaus nahe der (ebenfalls sich unpersönlich gebenden) Haiku-Form, die Barthes sich für seine Kommentare so sehr gewünscht hatte.

Hier noch rasch ein Beispiel (von 1689):

Die Augenbrauen-Bürste
erscheint mir als Erinnerungsblitz –
beim Anblick der Safran-Blüte!38

Schreibaufgabe

? Schreiben Sie möglichst regelmäßig kurze Kommentare zu dem, was Ihnen alles so auffällt.

? Konzentrieren Sie sich nicht nur auf Meldungen oder Nachrichten in den Medien. Schreiben Sie auch über alltägliche Gespräche auf der Straße, Unterhaltungen mit Freunden, Beobachtungen, die Sie ganz nebenbei unterwegs gemacht haben etc.

? Datieren Sie diese Kommentare und ergänzen Sie die Texte (wenn möglich) durch eigene Fotografien oder anderes Textmaterial, das sich auf Ihre Texte bezieht.

Arbeiten Sie kontinuierlich an einer solchen Chronik Ihrer Jetztzeit-Beobachtungen.

? Schreiben Sie in diesem sinne »über sich selbst«, indem Sie möglichst konkret über anderes schreiben.

? Vermeiden Sie abschließende Urteile oder Wertungen. Werden Sie (in welcher literarischen Form auch immer) zu einem Enthusiasten des Moments und seiner blitzartigen »schönen Offenbarung«.

 

7. Sich ausbreiten

Studierst Du, fischst Du oder jagst Du oder tust Du alles zugleich? Bei unserem Lariner See nämlich kann das alles gleichzeitig geschehen. Denn der See gibt die Fische; die Wälder, die den See umgeben, bieten das Wild, und die tiefe Abgeschiedenheit gewährt reichlich Muße zum Studium …39

Das Kommentieren lehnt sich an etwas an, das uns aufgefallen oder zugestoßen ist. Wir selbst sind also nicht der Ausgangspunkt eines solchen Kommentars, sondern etwas von außen, etwas zunächst Fremdes. Wir können diese Beziehung aber auch umdrehen, indem wir uns selbst in den Vordergrund rücken und von einem bestimmten Augenblick oder Moment unseres Lebens ausgehen. Dann fixieren wir einen bestimmten Ort oder Raum, in dem wir uns gerade aufhalten, und beginnen, von diesem Ort aus zu schreiben, zu berichten und zu erzählen.

Der Raum, an dem unser Text entsteht, ist unserem Erzählen eingeschrieben, dann und wann...

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