Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens

Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens

 

 

 

von: Joachim Bauer

Blessing, 2015

ISBN: 9783641156312

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 967 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens



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SOZIALE ERFAHRUNGEN FORMEN DAS GEHIRN

Junge Menschen bedürfen einer Umwelt, die es ihnen in einem hinreichenden Maße erlaubt, grundlegende Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Darüber hinaus muss diese Umwelt ihnen aber auch Freiheitsräume zur Verfügung stellen und sie anspornen, eine Zukunft zu entwerfen und für diese selbst etwas zu tun. Eine der Voraussetzungen für das Gelingen kreativer Selbstentfaltung ist die Fähigkeit zur Selbststeuerung. Die beiden neurobiologischen Fundamentalsysteme, die das Spielfeld der Selbststeuerung bilden, sind bei Kindern und Jugendlichen nicht in gleichem Maße ausgereift. Das Trieb- oder Basissystem34, welches Wünsche nach Wohlbefinden und Genuss sowie die Abneigung gegen Unlust und Schmerz zum Ausdruck bringt, ist dem Präfrontalen Cortex, der den Menschen zur Selbstkontrolle befähigt, in seiner Entwicklung voraus. Wer mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hat, den überrascht das nicht. Das Basissystem ist durch genüssliche Angebote leicht verführbar, auf Frustration reagiert es mit Aggression. Es ist impulsiv und ungeduldig, verfällt aber, sobald es gesättigt ist, leicht in Bequemlichkeit und Apathie. Erst wenn der Präfrontale Cortex ausgereift und in funktionstüchtigem Zustand ist, kann er das Basissystem top-down kontrollieren. Diese Kontrolle, Selbstkontrolle genannt, ist jedoch nur eine seiner Aufgaben. Der Präfrontale Cortex kontrolliert nicht nur, er ist auch kreativ, er macht den Menschen sozial, er ermöglicht die Zusammenarbeit mit anderen und erweitert damit die Möglichkeiten, dem Basissystem Gutes zu tun. Eine funktionierende Selbstkontrolle ist, längerfristig gesehen, also keineswegs gegen die vom Basissystem vertretenen Wünsche und Bedürfnisse gerichtet. Dass Kinder und Jugendliche das zunächst anders empfinden, ist der Grund dafür, dass Erziehung nicht nur Freude macht, sondern auch anstrengend sein kann.

Obwohl Teil unserer evolutionären Bestimmung, ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und damit auch zur Selbststeuerung35 nicht angeboren. Genetisch mitgegeben ist dem Menschen nur die Möglichkeit, sie zu erwerben. Die parallele Entwicklung der beiden Fundamentalsysteme und ihrer Beziehung zueinander entlang der ersten zwanzig Lebensjahre ist ein faszinierender und zugleich äußerst sensibler Prozess. Dieser lässt sich sowohl aus psychologischer als auch aus neurobiologischer Perspektive betrachten. Beide Aspekte sind miteinander eng verschränkt. Die duale Sichtweise entspricht keiner modischen Attitüde – weil Neurobiologie in ist –, sondern folgt einer zwingenden Notwendigkeit, denn die sozialen Erfahrungen, denen das kindliche Gehirn ausgesetzt ist, formen seine Strukturen und Funktionen. Diese beeinflussen sodann ihrerseits das kindliche Verhalten – samt seiner Selbstkontrollpotenziale. Bei kaum einer anderen Hirnregion ist die als Neuroplastizität bezeichnete Formbarkeit der Strukturen derart deutlich wie im Präfrontalen Cortex. Hier, im Stirnhirn, bilden sich die neuronalen Funktionen heraus, die wir für die Ausübung von Selbstkontrolle brauchen. Der Prozess der Entwicklung und Formung des Präfrontalen Cortex durch soziale Erfahrungen hat einen Namen: Erziehung. Die deutschen Begriffe der Bildung im Allgemeinen und der Ausbildung im Besonderen sind im englischen Wort für Erziehung – »Education« – mitenthalten, in unserer Sprache wären die Begriffe Bildung und Ausbildung daher zur Erziehung noch hinzuzufügen, um die sozialen Voraussetzungen für die Reifung des Stirnhirns zu beschreiben.

WIR, DIE KINDER VON DUNEDIN

Im Jahre 1869 war Deutschland ein Flickenteppich von kleinen, von Fürsten- und Königshäusern regierten Feudalstaaten. Einfache Leute, und Frauen zumal, hatten keinen Hochschulzugang. Als in diesem Jahre in Dunedin, in einer heute etwa 120 000 Einwohner zählenden Stadt in Neuseeland, die erste neuseeländische Universität gegründet wurde, war sie im gesamten damaligen Britischen Empire die erste Hochschule, an der Frauen bereits zu allen Studienfächern zugelassen waren. Der Studienbetrieb der University of Otago startete im Jahre 1871, gerade einmal drei Professoren unterrichteten damals 81 Studentinnen und Studenten. Heute hat die Stadt über 20 000 Studenten, was ihr ein vitales Kulturleben beschert. Zu den zahlreichen Popmusik-Bands, welche aus der Studentenszene der Stadt hervorgingen, zählte auch eine 1984 gegründete Rockgruppe namens »Jean-Paul Sartre Experience«. Wie die Mitglieder dieser 1994 schließlich wieder auseinandergegangenen Band zur Frage des freien Willens standen, die ihr Namensgeber zeitlebens philosophisch umkreist hatte, ist allerdings nicht überliefert.

Im Jahre 1972, rund hundert Jahre nach Gründung der Universität, starteten in Dunedin zwei Abteilungen der dortigen Medizinischen Universitätsklinik ein spektakuläres, über mehrere Jahrzehnte gehendes Langzeitprojekt, welches den Namen der Stadt in der Forscherszene der Psychologen und Neurowissenschaftler später weltweit zu einem Begriff machen sollte. Sämtliche in der Stadt zwischen Anfang April 1972 und Ende März 1973 geborenen Kinder, rund 1 000 an der Zahl, wurden ab dem Zeitpunkt der Geburt erfasst. Die Kinder dieses kompletten Jahrgangs wurden dann über verschiedene Stationen ihrer Kindheit und Jugend mit psychologischen und medizinischen Tests begleitet und im Alter von 32 Jahren nochmals eingehend untersucht. Das Konzept dieses Projektes war derart vielversprechend, dass sich renommierte Forschungsinstitute aus den USA, Kanada und England beteiligten und an der Auswertung der Daten mitwirkten, was unter anderem die erfreuliche Folge hatte, dass Ergebnisse der Dunedin-Studie hochrangig, in einem der international angesehensten Wissenschaftsjournale veröffentlicht werden konnte36.

Eines der zentralen Ziele der Dunedin-Studie war es37, bei den Kindern eines ganzen Jahrgangs entlang der ersten elf Lebensjahre die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstkontrolle38 zu beobachten und zu untersuchen, wie sich der Verlauf dieser Entwicklung auf das spätere Leben dieser Kinder auswirken würde. Alle Kinder im dritten, fünften, siebten, neunten und nochmals im elften Lebensjahr wurden, begleitet von ihren Eltern, jeweils für einen ganzen Tag von Psychologen und Ärzten ausführlich untersucht39. Die Ergebnisse wurden für jedes Kind zu einem Gesamtmaß seiner individuellen Selbstkontrolle zusammengefasst. Dieser für jedes Kind ermittelte Wert bildete seine Fähigkeit ab, Aufmerksamkeit zu fokussieren, eine Aufgabe planvoll anzugehen, bei einer Sache zu bleiben und durchzuhalten, sich nicht ablenken zu lassen, seine innere motorische Unruhe zu bändigen und aggressive Impulse zu mäßigen. Selbstverständlich wurde nicht vergessen, auch den sozioökonomischen Status jedes Kindes zu erfassen. Dabei zeigte sich, wie zu erwarten, dass die soziale Situation eines Kindes sich auf die Entwicklung seiner Fähigkeit zur Selbstkontrolle sehr wohl auswirkt. Gerade deshalb, weil die vom Sozialstatus ausgehenden Effekte genau beachtet wurden, konnten sie mit Blick auf ihre Auswirkungen auf die Selbstkontrolle herausgerechnet werden. Eine ähnliche Bereinigung der Daten wurde auch mit Blick auf Kinder vorgenommen, die eine ADHS-Diagnose hatten40. Auch beim Geschlecht zeigte sich ein Einfluss: Mädchen besitzen eine signifikant bessere Fähigkeit zur Selbstkontrolle als Jungen, eine Beobachtung, die niemanden überrascht, der eigene Kinder hat oder beruflich mit Kindern oder Jugendlichen befasst ist.

Was aber war das eigentliche Ergebnis der Dunedin-Studie, was beobachteten die Forscher, als sie die ehemals untersuchten Kinder Jahre später als Jugendliche und nach vielen Jahren schließlich als gestandene Erwachsene wiedersahen? Wer als Kind nur eine geringe Fähigkeit zur Selbstkontrolle aufwies, brach als Jugendlicher zwischen 13 und 18 Jahren häufiger die Schule ab, war häufiger schwanger – beziehungsweise hatte häufiger eine Schwangerschaft verursacht – und gehörte mit größerer Wahscheinlichkeit zu den Rauchern, jeweils verglichen mit der Vergleichsgruppe derer, die als Kinder eine besser entwickelte Selbstkontrolle gezeigt hatten. Nicht minder deutliche Späteffekte kindlicher Selbstkontrolle wurden im Erwachsenenalter beobachtet. Im Alter von 32 Jahren zeigten Personen mit einer einst nur gering entwickelten Selbstkontrolle einen schlechteren körperlichen Gesundheitsstatus41, waren sozial schlechter gestellt, häufiger alleinerziehend, verdienten weniger und hatten mehr finanzielle Probleme. Sie waren zudem häufiger drogenabhängig und straffällig geworden42.

Die Kinder von Dunedin, das sind wir alle. Ein Mangel an Selbstkontrolle im Kindesalter ist kein genetisch vorgezeichnetes Schicksal. Das kindliche Gehirn formt sich entlang den sozialen Erfahrungen des Kindes und entlang der Art, wie das Kind erzogen wird, lebt und sein Gehirn benutzt. Kinder müssen im Rahmen der Erziehung – liebevoll, erklärend, aber auch konsequent – zu Selbstkontrolle angehalten werden, also lernen, zu warten, zu teilen und ihre Impulse zu kontrollieren. Andernfalls ergeben sich, wie die Dunedin-Studie eindrucksvoll zeigt,...

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