Betreuung bei psychischen Erkrankungen - Ein medizinisch-rechtlicher Ratgeber mit 15 Fallbeispielen

Betreuung bei psychischen Erkrankungen - Ein medizinisch-rechtlicher Ratgeber mit 15 Fallbeispielen

 

 

 

von: Thomas Lorz

Kohlhammer Verlag, 2015

ISBN: 9783170260825

Sprache: Deutsch

126 Seiten, Download: 3011 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Betreuung bei psychischen Erkrankungen - Ein medizinisch-rechtlicher Ratgeber mit 15 Fallbeispielen



2         Demenz


 

 

 

Die liebenswürdige Vermieterin (Fall 1)


Es ist Mitte November, als ich vom Amtsgericht den Auftrag bekomme, die 85-jährige Frau Müller zu begutachten. Ich rufe Frau Müller an, erkläre ihr meinen Auftrag und verabrede mich für den nächsten Tag in ihrer Wohnung, die im Stadtzentrum nicht weit von meiner Praxis entfernt liegt. Als ich nachmittags zur vereinbarten Zeit an der Wohnungstür klingle, werde ich von der alten Dame freundlich empfangen. Wir kommen an mehreren großen, mit alten Möbeln vollgestellten Zimmern vorbei, bis wir das salonartige Wohnzimmer erreichen. Frau Müller bietet mir einen bequemen Sessel an und nimmt gegenüber Platz. Auch dieser Raum ist reich möbliert. Einige Schritte von der Sofaecke entfernt, in der wir uns niedergelassen haben, steht ein Esstisch aus massivem Holz mit sechs samtgepolsterten Stühlen, dahinter ist ein Buffet mit einem hohen Aufsatz zu sehen. An der Wand schräg gegenüber von meinem Platz sehe ich einen antiken Sekretär, auf dem sich Unterlagen aller Art stapeln. Neben dem Schreibtisch führt eine halb geöffnete Tür in ein weiteres Zimmer. Eine Stehlampe mit beigem Stoffschirm wirft warmes Licht auf unsere Sitzgruppe. Alles wirkt sauber und aufgeräumt. Frau Müller ist klein und wirkt für ihr Alter drahtig. Sie ist altmodisch gekleidet und trägt der Jahreszeit entsprechend eine Strickjacke aus grober Wolle. Sehr auffällig ist ihre überdimensionale, fast quadratische Brille, die ihr Gesicht dominiert. Hinter den starken Brillengläsern wirken ihre Augen eulenartig groß.

Frau Müller ist seit vielen Jahren verwitwet. Ihre ledige Tochter lebt in der Nachbarwohnung im selben Haus. Frau Müller ist die Eigentümerin des Mietshauses mit acht Mietparteien. Außer diesem Altbau besitzt die ehemalige Geschäftsfrau noch drei weitere Mietshäuser in bester Altstadtlage. Sie hat vor kurzem zunächst den Rat ihres Steuerberaters befolgt und einen langjährigen Bekannten bevollmächtigt, sie in allen Angelegenheiten zu vertreten. Ihrem Steuerberater war ihre Vergesslichkeit schon länger aufgefallen. Die ihm vorgelegten Dokumente bestätigten seinen Verdacht, dass sie von einigen Mietern betrogen und beeinflusst wird.

Kurze Zeit darauf hat Frau Müller die Vollmacht jedoch mit der Begründung widerrufen, dass sie sich bevormundet fühlt und mithilfe ihrer Tochter wieder alles selbst regeln will. Da sich ihre Vergesslichkeit weiter verschlimmerte und sie die erforderlichen Steuerunterlagen nicht vorlegen konnte, hat ihr Steuerberater beim Amtsgericht eine Betreuung beantragt. Daraufhin wurde ich als nervenärztlicher Sachverständiger beauftragt, Frau Müller zu begutachten.

Gleich zu Beginn unseres Gesprächs stellt sich heraus, dass Frau Müller den Grund meines Besuchs nicht mehr weiß. Ich erkläre ihr noch einmal den richterlichen Auftrag und thematisiere die Befürchtungen ihres Steuerberaters. Dieser hatte mich einige Tage zuvor am Telefon darüber informiert, dass Frau Müller monatlich etwa 10 000 € aus Mieteinnahmen bezieht. Trotz dieser hohen Einkünfte hat sie kaum Geld zur täglichen Verfügung und kann ihre Nebenkosten nicht mehr bezahlen. Auffällig ist außerdem, dass sie zu wenig Miete für ihre Wohnungen verlangt. Als Beispiel nannte er eine 120 Quadratmeter große Wohnung, die sie für 100 € im Monat vermietet. Von den Nachbarn wurde berichtet, dass Müller regelmäßig großzügig Trinkgeld gibt. Nicht selten würde sie eine kurze Taxifahrt mit 50 € begleichen. Es kursierten auch Gerüchte, dass sie wahrscheinlich von mindestens einer Mieterin finanziell ausgenutzt wird.

»Frau Müller, beim Amtsgericht wurde eine Betreuung für Sie angeregt.«

Die Konfrontation mit dieser Tatsache nimmt sie auffällig gut gelaunt auf. Sie lacht verschmitzt und erklärt: »Ich brauche doch keine Betreuung. Ich bekomme »Essen auf Rädern« und es kommt zweimal täglich eine Krankenschwester, die mir meine Medikamente gibt. Für die Hausarbeiten und zum Wäschewaschen habe ich eine Putzfrau«.

Ich frage nach den sonderbar niedrigen Mieten und den Geldgeschenken an Nachbarn und fremde Personen.

»Ich weiß, ich weiß. Die Mieten für die Wohnungen sind sehr günstig. Aber wissen Sie, ich habe zu meinen Mietern seit vielen Jahren ein freundschaftliches Verhältnis und das möchte ich nicht durch eine Mieterhöhung belasten. Ich kann doch mein ganzes Geld nicht mit ins Grab nehmen und komme auch ohne Mieterhöhung gut zurecht.«

Sie lacht und fährt fort: »Meine Tochter wird mir helfen. Mit ihrer Hilfe bin ich durchaus in der Lage, mich um meine Mietangelegenheiten zu kümmern«.

Nach ihrer Tochter wollte ich Frau Müller ohnehin fragen. »Ihre Tochter lebt doch im selben Haus, warum hat sie Sie denn bislang nicht unterstützt?«

Ich bekomme von ihr jedoch nur die vage Auskunft, dass ihre Tochter vor ungefähr zwei Wochen wegen einer Depression ins Bezirkskrankenhaus eingewiesen wurde und nach der Entlassung alles in Ordnung bringen werde. Ich bitte Frau Müller, einen Blick in ihre Unterlagen werfen zu dürfen. Sie steht prompt auf und öffnet ihren Schreibtisch, in dem viele ungeöffnete Briefe liegen. Die vom Steuerberater dringend angemahnten Unterlagen kann sie jedoch nirgends finden.

»Ach wissen Sie, ich muss die Nebenkostenabrechnungen und die Steuerunterlagen verlegt haben. Ich werde sie aber nachher sofort suchen und meinem Steuerberater schicken.«

Es ist angenehm, sich mit der eloquenten Dame zu unterhalten. Sie ist gebildet, liest täglich Zeitung und nimmt noch am Tagesgeschehen teil. Auffällig ist allerdings, dass sie häufig den roten Faden verliert, in die Vergangenheit abschweift und bereits nach kurzer Zeit erneut meinen Namen und den Grund meines Besuchs nicht mehr weiß. Darauf angesprochen, versucht sie sehr geschickt und humorvoll, ihre Wissenslücken durch Gegenfragen und Themenwechsel zu kaschieren. Auch ihre heitere Stimmung und ihre Unbeschwertheit mir gegenüber setzen mich mehr und mehr in Erstaunen. Frau Müller freut sich über den unerwarteten Besuch und die willkommene Ablenkung. Gerade beginnt sie, weitschweifig aus ihrer Jugendzeit zu berichten, als plötzlich im Nachbarzimmer ein lautes Zischen zu hören ist. Ich springe auf, laufe durch das Wohnzimmer und öffne die Tür zum Nebenzimmer. Dort brennt kein Licht, aber auch im Halbdunkel kann ich erkennen, dass hinter der Tür eine etwa fünfzigjährige Frau steht, die angetrunken ist. Offensichtlich hat sie das Gespräch zwischen Frau Müller und mir belauscht, dabei Bier getrunken und sich gerade eine neue Dose aufgemacht. Ich bitte die Unbekannte, ins Wohnzimmer zu kommen und sich zu uns zu setzen. Noch bevor ich ausgesprochen habe, huscht die Gestalt an mir vorbei und flieht ohne ein Wort aus der Wohnung. Frau Müller bleibt auch in dieser Situation heiter und gelassen und erklärt, dass dies ihre beste Freundin Susi sei, die sie täglich besuche und ihr beim Einkaufen helfe. Sie würde sie deswegen umsonst im Haus wohnen lassen und ihr auch ab und zu bei finanziellen Problemen unter die Arme greifen. Susi habe ihr auch geraten, die Vollmacht zu widerrufen.

Die unangemessen heitere und sorglose Stimmung von Frau Müller, ihre deutlichen, fortschreitenden Gedächtnisstörungen, ihre eingeschränkte Kritik- und Urteilsfähigkeit und ihre leichte Beeinflussbarkeit legen den Verdacht nahe, dass sie an einer Demenz erkrankt ist und Hilfe benötigt. Menschen mit einer leichtgradigen Demenz wie Frau Müller sind häufig noch in der Lage, ihre mentalen Defizite mit rhetorischen Mitteln zu kaschieren.

Ich möchte die Verdachtsdiagnose Demenz mit dem »Mini-Mental-Test « und dem sogenannten »Uhrentest« absichern. Das sind einfache Testverfahren, die ohne großen Aufwand durchgeführt werden können. Der Mini-Mental-Status-Test wurde entwickelt, um Einschränkungen des Denkvermögens zu erfassen. Der Patient wird dabei aufgefordert, Fragen zur seiner Person, zum Datum und zur örtlichen Orientierung zu beantworten, leichte Rechenaufgaben zu lösen, einen Satz zu schreiben, eine Figur abzuzeichnen und Anweisungen zu befolgen wie zum Beispiel, ein Blatt Papier aufzuheben. Bei diesem Test werden maximal 30 Punkte vergeben.

Frau Müller ist damit einverstanden, den Test durchzuführen und erreicht mit 24 Punkten ein Ergebnis, das den Verdacht auf eine leichtgradige krankheitswertige kognitive Beeinträchtigung bestätigt. Sie ist außerdem bereit, beim Uhrentest mitzumachen. Ich bitte Frau Müller, in einem Kreis das Zifferblatt einer Uhr zu zeichnen und die Zeigereinstellung zehn nach zwölf...

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