Ausweg am Lebensende - Sterbefasten - Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken

Ausweg am Lebensende - Sterbefasten - Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken

 

 

 

von: Boudewijn Chabot, Christian Walther

Ernst Reinhardt Verlag, 2015

ISBN: 9783497602209

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 3374 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Ausweg am Lebensende - Sterbefasten - Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken



1 Vier Personen, die durch Sterbefasten den Tod vorzeitig herbeiführten

Boudewijn Chabot

1.1 Vorbemerkungen

Im Jahr 2007 starben laut Statistischem Bundesamt 3993 Menschen, die über 60 Jahre alt waren, durch Suizid. 1036 waren über 80 Jahre alt. Diese Suizide werden oft als „Alterssuizide“ bezeichnet. Zu misslungenen Suizidversuchen gibt es keine amtlichen Zahlen, woraus jedoch nicht gefolgert werden darf, dass sie seltener sind als die „gelungenen“ (De Leo et al. 2006). Hinter diesen amtlichen Zahlen verbergen sich traurige Schicksale, über die auch immer wieder öffentlich geklagt wird. Diese Klage wird meist verbunden mit der Forderung, „die Gesellschaft“ müsse mehr tun für Menschen, die im hohen Alter so verzweifelt sind, dass sich manche von ihnen sogar das Leben nehmen wollen. Im gleichen Atemzug wird häufig gegen Sterbehilfe polemisiert, so als sei es deren Anliegen, die Gesellschaft aus ihrer Pflicht für die alten und schwer leidenden Menschen zu entlassen (Fittkau 2006).

Hinter dem, was heute amtlich „Suizid“ heißt und vom Nationalen Ethikrat als Selbsttötung bezeichnet wird, stehen sehr verschiedene Tathergänge, die von grässlichen, meist einsam begangenen Akten bis zu einem friedlichen Einschlafen im Kreise von Verwandten und Freunden reichen. Ebenso vielfältig sind die Situationen, aus denen heraus sich der Wunsch nach Selbsttötung entwickelt: Es gibt durchaus die Möglichkeit, dass Lebensumstände, die einen alten Menschen zur Verzweiflung und zum Aufgeben treiben, erkannt und so erfolgreich geändert werden, dass dieser dann doch noch eine Zeit lang mit Freude und Gelassenheit weiterleben kann. Jeder, der aufgrund einer unmittelbaren oder aber auch weniger direkten Betreuungssituation Verantwortung für das Wohl eines alten Menschen trägt, muss sich stets aufs Neue fragen, ob es zu Versäumnissen gekommen ist oder ob sich bedenkliche Entwicklungen absehen lassen, die präventives Handeln erforderlich machen.

Sofern ein Arzt das Vertrauen des Sterbewilligen besitzt, kommt ihm sicher eine besondere Rolle für dessen Beratung und die Beurteilung seines Willens zu. Es gibt darüber hinaus ein „Netzwerk“ von Anlaufstellen, Vereinen, Wissenschaftlern u. a., die sich Suizid-Prävention zur Aufgabe gemacht haben, wie z. B. die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention, DGS. Leider ist derzeit jedoch davon auszugehen, dass man von den zahlreichen Anlaufstellen für die hier von uns betrachtete Fallgruppe der älteren Menschen meist keine wirklich hilfreiche Beratung erhalten kann.1 Immerhin gibt es einige regionale Modellprojekte, die sich speziell die Verhinderung von Alterssuiziden zum Ziel gesetzt haben.2 Ein Hauptproblem bei älteren Menschen, die sich mit Suizid-Gedanken tragen, dürfte darin bestehen, dass sie selber sich meist gar nicht an irgendeine helfende Instanz wenden möchten. Insofern ist es vor allem für ihre Angehörigen und Freunde von Interesse, solche Angebote zu kennen. Dafür kann man sich an einen Psychotherapeuten wenden, insbesondere einen psychologischen Psychotherapeuten mit längerer Berufserfahrung (mehr hierzu in Kap. 5.4).

Heutzutage können sich viele Menschen vorstellen, dass sie vor allem mit zunehmendem Alter an einen Punkt kommen könnten, an dem sie nicht mehr weiterleben wollen. Sie treffen ihre Bewertung der Lebensumstände gemäß ihrer Weltanschauung und aufgrund ihrer gesammelten Erfahrungen (Seale 1996). Wenn eines Tages ihre Absicht heranreift, aus dem Leben zu scheiden, werden sie sich mit anderen Menschen beraten, sofern es ihnen nicht völlig unmöglich ist, sich über existenzielle Fragen auszutauschen. Leider wird es für manche sehr schwer sein, eine Beratung wie sie sie sich wünschen, zu erhalten, vor allem wenn niemand mehr am Leben ist, der ihnen nahe stand und dem sie vertrauen konnten. Diejenigen, die eine Selbsttötung aus Überzeugung von vorneherein ablehnen, werden als Gesprächspartner nicht in Frage kommen. Eine „paternalistische“, d. h. bevormundende Einmischung anderer in diesen Entscheidungsprozess wird der Rat Suchende ablehnen, – zu Recht, wie wir meinen.

Die kritische Bewertung eines fürsorglichen, von Bevormundung nicht ganz freien Umgangs mit älteren Menschen als „paternalistisch“ kann im Grunde jeden treffen. Dass man irgendwann dahin kommt, auf alte Menschen in ähnlicher Weise Einfluss nehmen zu wollen wie auf Kinder, wird kaum jemand leugnen. Etwas anderes ist es, ob man jemanden dann, wenn es um den vorzeitigen Sterbewunsch geht, nur noch „beschützen“ will oder wirklich offen ist für die Möglichkeit, dass dieser Wunsch für diesen Menschen in dieser Situation nachvollziehbar und zu respektieren ist. Diese prinzipielle Offenheit würde dann auch beinhalten, dass man diesem Menschen gegebenenfalls dabei hilft, vorzeitig auf humane Weise aus dem Leben zu gehen – wie man ihm andernfalls ja auch helfen wird, mit seiner Situation wieder besser zurecht zu kommen.3

Wer unter humanen Bedingungen seinem Leben ein Ende setzen will und hierfür Rat und Hilfe sucht, hat es in Deutschland nicht leicht, gewiss schwerer als etwa in der Schweiz, aber doch weniger schwer als in Österreich. Die in diesem Buch beschriebene und diskutierte Möglichkeit, durch Sterbefasten, also den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) vorzeitig und friedlich zu versterben, ist bisher in der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, auch wenn seit dem Erscheinen unseres Buches über einzelne Fälle öffentlich berichtet wurde (z. B. Klähn 2012; sehr ausführlich: zur Nieden 2015). Um einen ersten Eindruck zu vermitteln, worum es bei solch einem Sterbefasten geht, schildern wir im folgenden vier Fälle, die sich tatsächlich so zugetragen haben, und zwar in den Niederlanden. Man erfährt daraus nicht allein, was im Verlauf von FVNF geschieht, sondern man erlebt mit, wie sich der Entschluss, durch FVNF vorzeitig aus dem Leben zu gehen, bei jemandem entwickelt und wie die bzw. der Betreffende diesen Entschluss in seinem sozialen Umfeld dann durchsetzt.

Zum besseren Verständnis dieser Fallbeispiele ist es nützlich, sehr kurz die gesetzlichen Regelungen zur Sterbehilfe in den Niederlanden mit der derzeitigen Situation in Deutschland zu vergleichen:

>> Rechtliche Regelung der Sterbehilfe in den Niederlanden im Vergleich zu Deutschland

Während in Deutschland ärztliche Tötung auf Verlangen vom Strafgesetz verboten ist, jedoch Beihilfe zur Selbsttötung prinzipiell nicht strafbar ist, sind beide Formen von Sterbehilfe in den Niederlanden unter gesetzlich definierten Voraussetzungen straffrei, wenn sie von Ärzten zum Beenden von »unerträglichem Leiden« geleistet werden (Griffiths et al. 2008). In Deutschland ist jedem die Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt, doch gerade den Ärzten wird es bisher durch die noch herrschenden Prinzipien im ärztlichen Standesrecht verwehrt. Andererseits genügt in Deutschland die Willensfreiheit des Sterbewilligen, damit seinem Wunsch (nach Beihilfe zur Selbsttötung) entsprochen werden darf, während in den Niederlanden nur bei einer medizinisch aussichtslosen Lage, nämlich einer zum Tode führenden Krankheit oder einem nicht heilbaren, schweren (körperlichen oder psychischen) Leiden Sterbehilfe straffrei vom Arzt geleistet werden darf.

Die Beihilfe zur Selbsttötung ist in den Niederlanden also in zweierlei Hinsicht restriktiver geregelt als in Deutschland: Sie darf nur von Ärzten durchgeführt werden, und es muss dieselbe Voraussetzung wie für die Tötung auf Verlangen erfüllt sein, nämlich die aussichtslose Lage des Patienten (Van Delden et al. 2004, vgl. auch Kap. 5 zur rechtlichen Lage in Deutschland.)

1.2 Frau B., 86 Jahre: „Sterben ist ein mühsames Geschäft“

Dieser Bericht beruht auf separaten Interviews mit der Tochter und dem Hausarzt von Frau B. nach ihrem Tode.

>> Soziale Situation und Persönlichkeit

Frau B., 86 Jahre alt, war immer Hausfrau gewesen und seit zwölf Jahren Witwe. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren beiden hilfsbereiten Kindern. Sie lebte selbständig, hatte viele soziale Kontakte und führte ein abwechslungsreiches und interessantes Leben. Ihre Tochter beschrieb sie als eine starke Frau, fürsorglich und mit einfühlsamem Interesse für andere Menschen, dabei stabil in ihrem Gefühlsleben.

>> Medizinische Lage und Entscheidungsfindung

Frau B. litt an mäßigem Bluthochdruck. In den Monaten vor ihrer Entscheidung, das Leben zu beenden, hatte sie mehrmals eine vorübergehende Durchblutungsstörung des Gehirns (Transitorische ischämische Attacke, kurz TIA) mit kurzen Ausfallerscheinungen. Auf Befragen hatte der Hausarzt ihr erklärt, dass solch eine TIA der Vorbote eines größeren Schlaganfalls, verbunden mit bleibenden Lähmungserscheinungen und / oder Sprachstörungen (Aphasie) sein kann. Außerdem hatte Frau B. Altersdiabetes, den sie aber mit Tabletten wirkungsvoll behandelte. Einige Wochen vor ihrem Tod ging plötzlich ihre Sehkraft stark zurück, so dass sie die Bildunterschriften im Fernsehen nicht mehr lesen konnte.

Frau B. fürchtete sich nicht davor, an einer weiteren Durchblutungsstörung zu sterben, aber dass eine TIA der Vorbote von Lähmungen und Sprachstörungen sein und sie daher pflegebedürftig werden könnte, ängstigte sie sehr. Ihr wurde klar, dass sie dann als Pflegefall in ein Alten- oder Pflegeheim aufgenommen werden müsste. Das hätte den Verlust ihrer Unabhängigkeit bedeutet, welche für sie – als der Persönlichkeit, zu der sie geworden war und die...

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