Kindesmisshandlung und Vernachlässigung - Epidemiologie, Diagnostik und Vorgehen

Kindesmisshandlung und Vernachlässigung - Epidemiologie, Diagnostik und Vorgehen

 

 

 

von: Gert Jacobi (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456945439

Sprache: Deutsch

529 Seiten, Download: 10468 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Kindesmisshandlung und Vernachlässigung - Epidemiologie, Diagnostik und Vorgehen



2 Die derzeitige Situation bei physischer Kindesmisshandlung und Neglect (S. 45-46)

Gert Jacobi

Im Verlaufe meiner Tätigkeit als Kinderneurologe an der Frankfurter Universitätskinderklinik bekam ich zwischen September 1967 und März 1998 und dann noch nach meiner Pensionierung bis heute (Juni 2007) detaillierte Mitteilungen über 234 Kinder, die schwer oder aufs Schwerste physisch misshandelt worden waren. Ich habe diese Kinder größtenteils in der Klinik ärztlich betreut, vor allem wenn sie eine Hirnverletzung hatten, habe sie dann auch begutachtet und vor dem Jugendamt, den verschiedenen Gerichten oder Behörden zu vertreten versucht. Wenn ich sage: «Ich habe versucht, sie zu vertreten », so meine ich damit, dass die Mehrzahl misshandelter Kinder keinen Fürsprecher, Anwalt oder Vertreter hat.

2.1 Erziehung ohne und mit Gewalt

In der Presse tauchen regelmäßig kurze Notizen oder zusammenfassende Berichte über Misshandlungen auf, deren äußerer Rahmen auf den Leser dramatisch wirkt (s. o.) und in ihm sofort die Meinung aufkommen lässt: «In meiner Familie gibt es so etwas nicht.» Dabei wird einmal übersehen, dass zwischen «strengen und strafenden Erziehungsmaßnahmen» und «Misshandlungen » häufig nur ein fließender Unterschied besteht. Übersehen wird aber auch, dass in der Öffentlichkeit immer noch physische Strafmaßnahmen, etwa Ohrfeigen, der Klaps auf den Hintern, die Benutzung eines Stocks, eines Kochlöffels, eines Nudelholzes, sogar einer Peitsche oder Gürtelschnalle als legitime Erziehungsmaßnahmen gewertet und anerkannt werden. So schreibt ein ranghoher Jurist im Hessischen Ärzteblatt noch 1993 (Rahn 1993)

So sehr man dafür eintreten muss, dass eine Erziehung von Kindern möglichst ohne körperliche Züchtigung erfolgen möge, so lässt sich wohl in gewissen, besonders gelagerten Fällen nicht völlig ohne sie auskommen. Jedenfalls ist das Züchtigungsrecht der Eltern anerkannt und führt zu keiner strafrechtlichen Verfolgung, wenn die Züchtigung nicht die Grenzen überschreitet, welche die Züchtigung zur Misshandlung werden lässt. Was ist denn ein «besonders gelagerter Fall»? Und wann «überschreitet eine Züchtigung die Grenzen und wird zur Misshandlung»? Die Definitionen sind völlig willkürlich, es ist erschütternd, dass ein Vertreter der «älteren Generation », der ich ebenfalls angehöre, eine derartige Meinung vertritt und die physische Repression von Kindern bejaht.

Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch daran, dass der deutsche Erziehungsstil seit Jahrhunderten auf Gewaltanwendung beruht, die dann vom Ehemann auch variabel gegen die Ehefrau ausgeübt wird. 1990 berichtete Remschmidt, dass in 3,5 % der Familien von den Eltern Gewalt gegen ihre Kinder ausgeübt wird, sodass diese dabei verletzt werden können, und dass bei 10 % der verletzten Kinder von Ärzten der Verdacht auf Kindesmisshandlung und bei weiteren 10 % auf Neglect ausgesprochen werden musste. 10 Jahre später zeigte eine Studie an den Ostküstenstaaten der USA (Kerker et al. 2000), dass Kinderärzte bei nur 0,3 % der Kinder zwischen 4 und 8 Jahren, die sie betreuten, Misshandlungsspuren aufgefallen waren.

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