Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters

Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters

 

 

 

von: Peter Rossmann

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456956961

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 2613 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters



4 Eine Grundfrage der Entwicklungspsychologie : Der Einfluss von Anlage und Umwelt (S. 29-30)

Seit sich Menschen über entwicklungspsychologische Fragestellungen Gedanken machen, ist die Frage nach der relativen Bedeutung von genetischer Anlage und von Umwelteinflüssen zentral. Beruht die psychische Entwicklung vorwiegend auf biologischen Reifungsprozessen, die sich naturgegeben, von innen heraus, entfalten oder sind dabei äußere Einflüsse und Anregungen, Lern- und Sozialisationsprozesse das wirklich Wichtige? Die Frage wurde oft als Entscheidungsfrage gestellt: Anlage oder Umwelt? Je nach Zeitgeist und wissenschaftlicher Mode fiel die Antwort äußerst unterschiedlich aus, von einer Position des extremen Milieuoptimismus bis zum extremen Milieupessimismus. Von einigen Wissenschaftern wurde das Problem auch schlicht als unlösbar betrachtet. Heute sind zu diesem Thema immer noch zahlreiche Probleme ungelöst. Die Frage nach Anlage und Umwelt wird aber inzwischen, angesichts der neueren Forschungsergebnisse, auf eine etwas andere Art gestellt. Die Wirkungsweisen von genetischen Einflüssen und von Einflüssen der Umwelterfahrung sind nämlich in einem früher nicht geahnten Ausmaß miteinander verwoben, sodass das Anlage-Umwelt-Problem manchmal geradezu zum akademischen Scheinproblem wird. Was damit gemeint ist, sei am folgenden Beispiel (siehe dazu auch Propping, 1989, und Singer, 1985) kurz dargestellt.

4.1 Zur Illustration der Fragestellung: Hirnentwicklung und Umwelt

Es ist inzwischen eine gesicherte Erkenntnis, dass das Gehirn höherer Tiere und besonders das des Menschen seine volle Leistungsfähigkeit nur im Wechselspiel mit der Umwelt entfalten kann. Ein experimenteller Nachweis dafür wurde anhand der Entwicklung des visuellen Kortex erbracht, eines Subsystems, das beim Menschen und bei höheren Tieren im Wesentlichen gleich funktioniert. Beobachtet wurde schon lange, dass die Sehfähigkeit von Menschen schwer beeinträchtigt wird, wenn sie ihren Gesichtssinn während einer kritischen Phase der frühkindlichen Entwicklung nicht ungestört gebrauchen können (z. B. durch Verletzungen, Linsentrübungen oder durch Astigmatismus). Die kritische Phase dauert beim Menschen etwa bis zum siebten Lebensjahr. Sehleistungen, die sich bis dahin nicht entwickelt haben, können später nicht mehr erworben werden. Kinder, die in der frühen Kindheit ihre Sehfähigkeit aufgrund von Verletzungen verloren haben, erhalten auch nach einer geglückten chirurgischen Behebung des Defekts ihre Sehfähigkeit nicht zurück, wenn die Operation erst nach dem Schulalter erfolgt.

Bei nonhumanen Primaten dauert die entsprechende kritische Phase ein Jahr, bei der Katze drei Monate. Bei Katzen, die während der ersten drei Monate im Dunkeln aufgezogen werden, reifen in der Sehrinde des Gehirns keine normalen rezeptiven Felder aus. Auch die Tiere bleiben in ihrem Sehvermögen andauernd stark beeinträchtigt. Wenn während der kritischen Phase nur ein Auge verschlossen gehalten wird, sind die Nervenzellen der Sehrinde nur noch vom anderen Auge erregbar. Es kommt außerdem zu einer Verschlechterung der synaptischen Übertragung im Thalamus, der die Signale beider Augen zur Hirnrinde weiterleitet. Diese Effekte sind reversibel, wenn das verschlossene Auge vor Ablauf der kritischen Phase wieder geöffnet wird. Später ist der Zustand nicht mehr korrigierbar. Diese inzwischen neurophysiologisch sehr ausführlich erforschten Phänomene haben folgende Grundlage: Die Verbindung zwischen den verschiedenen Nervenzellen des visuellen Systems ist zwar in den Grundzügen genetisch festgelegt, der «Schaltplan» ist aber relativ ungenau. Während der Ontogenese des Nervensystems werden weit mehr Nervenzellen angelegt, als später im ausgereiften System wirklich funktionieren. Ein Großteil der ursprünglich angelegten Nervenzellen stirbt wieder ab, diesem Eliminationsprozess entkommen vorwiegend jene Zellen, die in Gebrauch stehen. Sensorische Reize aus der Umwelt wirken daher strukturierend auf diesen Prozess ein. Das endgültige Sehsystem entwickelt sich nur unter dem Einfluss spezifischer Erfahrung.

Die beschriebenen Mechanismen dürften auch auf andere Hirnregionen bzw. zentralnervöse Leistungen generalisierbar sein. Experimentalmodelle dieser Art machen klar, dass die Frage, ob genetische Faktoren oder Umweltfaktoren von größerer Wichtigkeit sind, oft am Kern des Problems vorbeigeht. Ohne genetische Baupläne gäbe es keine neurophysiologischen Rahmenbedingungen für die zentralnervösen Leistungen, und ohne spezifische Umweltreize erfolgte keine adäquate Funktionsentwicklung des Systems.

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