Theorie der Pflege und der Therapie - Grundlagen für Pflege- und Therapieberufe

Theorie der Pflege und der Therapie - Grundlagen für Pflege- und Therapieberufe

 

 

 

von: Johann Behrens

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456759166

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 3396 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Theorie der Pflege und der Therapie - Grundlagen für Pflege- und Therapieberufe



2 Drei theoretische Fast-Selbstverständlichkeiten


In diesem Kapitel versuchen wir uns drei theoretische Fast-Selbstverständlichkeiten zu vergegenwärtigen, auf die wir immer wieder als Basis-Verständnisse zurückkommen. Deshalb stellen wir sie eingangs zur Diskussion. Zunächst (Kap. 2.1) ist zu klären, was wir unter Theorie verstehen. Das ist nötig, weil in Pflege- und Therapiewissenschaften eine Fülle von „Konzepten“, Middle Range-, Meta- und Großtheorien unterschieden werden. Blumenbergs „absolute Metaphern“ erweisen sich hier als hilfreich (Blumberg, 1987). Im Kapitel 2.2 geht es um die Zentralbegriffe dieses Buches, deren inhaltlich konkrete Klärung jede einzigartige Klientin oder Klient für sich im Aufbau interner Evidence erarbeitet. Was heißt „Selbstbestimmung“ und „Teilhabe“ am Leben der Gesellschaft“ als Ziel von Pflege und Therapie? Im Kapitel 2.3 ist die praktisch folgenreiche Alternative zu behandeln: Pflege und Therapie lebender Wesen (offene Systeme) oder Pflege und Therapie von Uhrwerken (geschlossene Systeme)? Dabei ist die Frage nicht rhetorisch gemeint. Die Antwort wird sein: Mal so und mal so, je nach Aufgabenstellung. Aber die Aufgabenstellung kann nur von Subjekten entschieden werden, nicht von Maschinen.

2.1 Middle Range-, Meta- und Großtheorien?


Muss man noch sagen, was eine Theorie ist und wozu sie nutzt? Die Antwort ist trivial: Ohne Theorie gäbe es kein Handeln. Das Wort „Theorie“ ist dem griechischen Begriff „theoria“ entnommen, der sich auf die Tätigkeiten des Anschauens und Betrachtens bezieht. Nur unter dem theoretischen Blick, also dem spezifisch gerichteten Anschauen des handelnden Subjekts wird ein Teil der Welt einem Subjekt als spezifische Umwelt sichtbar. Ohne subjektive Theorie sieht man gar nichts. Das haben bereits Jacob v. Uexküll (1973) und V.v. Weizsäcker (1955) im frühen 20. Jahrhundert für alle lebenden Wesen gezeigt. Nur handelnde Subjekte sehen etwas. Ohne subjektive Praxis keine Theorie. Der Mensch ist kein weißes Blatt Papier, auf das die Welt objektiv ihre Mitteilungen schreibt – kein für alle Eingriffe von außen „offenes“ maschinelles, sondern ein die Welt eigenständig interpretierendes „geschlossenes“ lebendes System. Deswegen sieht nicht nur eine Schnecke eine Kreuzung ganz anders als der Autofahrer auf dem Weg zum Kindergarten. Auch das Kind des Autofahrers sieht – obwohl sie beide im selben Auto sitzen – ganz anderes als er: So sieht z.B. das Kind einen ganz kleinen Wauwau weit entfernt am Horizont, den der Vater gar nicht wahrnahm. Eine für Menschen intersubjektiv überprüfbare zusammenfassende Theorie der Umwelt ist also etwas ganz Alltägliches.

Dennoch haben die Leserinnen und Leser dieses Buches ein Recht darauf zu erfahren: Wie steht dieses Buch zu den verbreiteten Sortierungen in Middle Range-, Meta- und Großtheorien? Wie steht dies Buch zu all den Pflege- und Therapietheorien einschließlich der absoluten Metaphern im Sinne Blumenbergs, die Pflege- und Therapieschüler früher jede für sich in einer Doppelstunde lernen mussten und die in vielen Klassifikationen sortiert waren?

In Pflege und Therapie ist eine Einteilung von Theorien nach ihrem Abstraktionsgrad und ihrer Komplexität am verbreitetsten (vgl. Neumann-Ponesch, 2017, S. 71ff.). Diese Einteilung geht auf den Soziologen Robert Merton (1949) zurück und wurde von dem Soziologen René König (1967) auch im deutschsprachigen Raum popularisiert. Auf dem niedrigsten Abstraktionsniveau stünden Empirische Regelmäßigkeiten und Alltagstheorien, es folgten Ad-hoc-Theorien zu bestimmten Phänomenen. Auf der dritten Stufe werden Mertons „middle range theories“ verortet, von René König als „Theorien mittlerer Reichweite“ übersetzt. Sie unterscheiden sich von der nächsten Stufe, den komplexesten und zugleich abstraktesten Theorien, den so genannten „Grand Theories“ dadurch, dass die „middle range theories“ die abstrakten und zugleich komplexen Theorien sind, die gerade noch empirische Forschungen anleiten und durch empirische Ergebnisse widerlegt (falsifiziert) werden können. Grand Theories seien unfalsifizierbar. Sie beanspruchten die Erklärung der Entwicklung ganzer Gesellschaften oder ganzer Berufsgruppen, ohne empirisch widerlegt werden zu können. Das war natürlich von mühsam empirisch forschenden Fliegenbeinzählern polemisch gegen weit berühmtere Kollegen formuliert, die sich entspannt im Lehnstuhl unfalsifizierbare Grand Theories ausdächten. Robert Merton zielte unverkennbar auf die Theorie sozialer Systeme seines berühmten Kollegen Talcott Parsons. Forscherinnen und Forscher, deren empirische Untersuchungen drei Male hintereinander nicht die gewünschten Ergebnisse erbracht hatten, erklärten im vorigen Jahrhundert gern ironisch, sich hinfort nur noch dem Verfassen von Grand Theories widmen zu wollen. In der Pflege wurde diese Abfolge gern in eine noch höhere Abstraktionsstufe eingebettet, den Meta-Theorien. Meta-Theorien meinten ursprünglich wohl Erkenntnistheorien über die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Theoriebildung, in ihnen wurden bald aber auch ethische Fragen der Pflege und Therapie eingeordnet. Walker und Avant verknüpften die genannten Ebenen der Theoriebildung, wobei sie die Theorien unterhalb der Theorien mittlerer Reichweite als „narrow-scope theories“ bezeichnen (Walker & Avant, 1998, S. 16), ins Deutsche gern übersetzt mit „praxisnahen Theorien“ (Neumann-Ponesch, 2017, S. 74). Grand Theories nennen Walker und Avant „globale Theorien“, die zu allgemein seien, um empirisch überprüft werden zu können (Walker & Avant, 1998, S. 10). In die globalen Theorien fallen überraschenderweise allerdings so konkrete Fragen wie die, welche Bedürfnisse Patientinnen hätten, als sei die jeweilige Antwort unfalsifizierbar. Vielleicht zu Recht verorten Walker und Avant dann alle bekannten, an Universitäten gelehrten Pflegetheorien als globale, empirisch nicht falsifizierbare Theorien – in alphabetischer Reihenfolge seien das die Theorien von Henderson, Johnson, King, Leiniger, Levine, Neumann, Newman, Orem, Orlando, Parse, Peplau, Rogers, Roy, Tavelbee, Watson und Wiedenbach. Dass das eine traurige, vielleicht sogar vernichtende Feststellung über alle diese Theoretikerinnen sei, sehen Walker und Avant allerdings nicht so.

Mir scheint diese ganze sich auf Merton (vielleicht zu Unrecht) berufende Einteilung von Theorien nicht besonders plausibel und weiterführend. Das fängt schon auf der angeblich am wenigsten abstrakten Ebene an: den Alltagstheorien. Denn tatsächlich finden sich in Alltagstheorien nicht falsifizierbare, höchst allgemeine Aussagen, und zwar oft dieselben wie in Grand Theories oder globalen Theorien. Ein Beispiel ist die Aussage, alle Menschen strebten nur nach ihrem Nutzen. In der Grand Theory der Ökonomie heißt diese Aussage „Nutzentheorie“. Sie ist empirisch unwiderlegbar, solange man sich nicht konkret festlegt, welcher konkrete Nutzen gemeint sein soll. Denn selbst die Pflegende, die sich ohne jeden Dank und ohne jede Anerkennung für eine Pflegebedürftige verzehrt und aufopfert, widerlegt diese Aussage nicht. Ihr großer Nutzen in all ihrem „Altruismus“ kann durchaus sein, dass sie sich gut und gerecht fühlt. Vielleicht ist ihr Nutzen auch die Anerkennung im Himmel, die umso größer ist, je mehr Undank der Welt Lohn war. Die Nutzentheorie ist, da unfalsifizierbar, gar keine Theorie, sondern ein Vorurteil. Das Vorurteil kann ganz nützlich sein, weil es einen fragen lässt, welche Nutzenvorstellung wohl mit einer beobachteten Handlung verbunden war. Aber eine informationshaltige Theorie wird dieses Vorurteil erst, wenn es falsifizierbar formuliert und empirisch getestet wurde. Gerade handlungsleitende Alltagstheorien haben nicht selten die zirkuläre Struktur eines unfalsifizierbaren Vorurteils (z.B. „Gut verheirate Männer sind nach Schlaganfall nicht rehabilitierbar“; Behrens & Langer, 2004).

Grand Theories sind gar keine Theorien, sondern Vorformen von Theorien, die erst zu Theorien werden, wenn sie falsifizierbar werden. Der „Konstruktivismus“ beherrscht die Entwicklung aller Theorien. Wir sind kein weißes Blatt, auf das die Natur oder die Wirklichkeit ihre Gesetze schreibt. Das dachten noch Mach und in seiner Folge Lenin. Wir sehen, wonach wir schauen. Selbstverständlich gilt das für Naturwissenschaften ebenso wie für Sozialwissenschaften. Um das erdachtete Gravitationsgesetz rein beobachten zu können, genügt es keineswegs, dass Physiker auf dem schiefen Turm von Pisa zufällig einen Apfel fallen lassen. Ihn verweht der Wind überall hin. Um das Gravitationsgesetz rein prüfen zu können, mussten Physiker in Bremen höchst aufwändig einen Fallturm konstruieren, in dessen Vakuum der Apfel empirisch bestenfalls so fällt wie vom Forscher erwartet. Solche Konstruktionen baut man nicht ohne vorherige Erwartungen. Manchmal sind Konstruktionen so kompliziert, dass sie das, was sie messen sollen, selber verändern (Heisenbergs Unschärferelation). Nicht selten verändert eine Untersuchung die Welt so sehr, dass ihre Ergebnisse schon deshalb nicht verallgemeinerbar sind (z.B. bei der Erforschung von Antibiotika, bei der neue resistente Stämme entstehen, generell zur Generalisierung Behrens, 2015). Aber das, was sich im sozial- genauso wie im naturwissenschaftlichem konstruierten Experiment zeigt, ist Empirie, so schwierig die Generalisierbarkeit auch sein mag. Früher gab es die Unterscheidung zwischen konstruktivistischen Sozialwissenschaften und nicht-konstruktivistischen „objektiven“, „exakten“ Naturwissenschaften. Inzwischen haben die Naturwissenschaften zur...

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