Der Boden - Bedrohter Helfer gegen den Klimawandel

Der Boden - Bedrohter Helfer gegen den Klimawandel

 

 

 

von: Susanne Dohrn

Ch. Links Verlag, 2019

ISBN: 9783862844579

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1176 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Boden - Bedrohter Helfer gegen den Klimawandel



DER BODEN


Dunkle Materie


Ich bin der Stoff, den alle nutzen und niemand kennt. Ich bestehe zur Hälfte aus Luft – um genau zu sein zwischen 30 und 65 Prozent – und werde Tag für Tag milliardenfach mit Füßen getreten. Bin tonnenschwer und gleichzeitig so federleicht, dass mich der Wind über Ozeane hinweg von Kontinent zu Kontinent tragen kann. Die meisten Menschen halten mich für tote Materie, dabei gibt es auf Erden nichts Lebendigeres. In einer Handvoll von mir kann es mehr Organismen geben, als Menschen auf unserem Planeten leben.1 Mich bevölkern Wesen, die schon vor Jahrmillionen tonnenschwere Fleischberge wie den Tyrannosaurus zerlegt haben. Für viele Wissenschaftler bin ich die letzte große »Terra incognita«, der letzte große weiße Fleck auf der Weltkarte der irdischen Wissenschaften. Ich bin die Grundlage allen Lebens.

Schlüsselelement der Natur


Wer sich auf eine Reise in die Welt des Bodens begibt, dem ergeht es leicht wie dem Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck. Nachdem der naturbegeisterte Dichter und Dramatiker über Bienen, Termiten und – hochaktuell – über Die Intelligenz der Blumen geschrieben hatte, verzweifelte er schier an seinem nächsten Werk Das Leben der Ameisen. »Man kommt dem Gegenstand niemals nahe, man weiß nicht, wo man ihn anpacken soll. Die Materie ist zu reich, zu umfassend, sie verzweigt sich unaufhörlich«, stöhnt er in seinem 1930 verfassten Vorwort.2

Der Boden ist wie Maeterlincks Ameisen: vielfältig und schwer zu greifen, kompakt und mikroskopisch klein, präsent bei jedem Blick aus dem Fenster, aber verborgen unter Pflanzenbewuchs und Steinen, unter Gebäuden, Beton und Asphalt. Jeden Tag werden allein in Deutschland Bodenflächen in der Größe von knapp 60 Hektar versiegelt. Das entspricht etwa 85 Fußballfeldern. Damit hören die Misshandlungen nicht auf. Man presst den Boden mit tonnenschweren Landmaschinen zusammen, sodass ihm die Luft ausgeht. Man zerreißt seine Haut beim Pflügen bis zu einer Tiefe von einem halben Meter. Könnte der Boden schreien, wäre der Lärm um uns herum unerträglich. Aber er hat keine Stimme. Wenn mit ihm etwas nicht in Ordnung ist, merkt es sehr, sehr lange niemand.

Zum Glück gibt es immer mehr Forscher, die sich ihm widmen und ihn wertschätzen. Sie nennen sich Bodenökologen und haben bis vor 15, 20 Jahren in der Welt der Wissenschaft eher ein Schattendasein geführt. Das liegt an ihrem Gegenstand. Versuche mit dem Boden sind mühsam, sie dauern Jahre, bisweilen Jahrzehnte, und die Ergebnisse lassen sich schwer verallgemeinern, weil Böden so vielfältig sind. Hinzu kommt: Bodenlebewesen sind keine Sympathieträger. Schaut man sie unter dem Mikroskop an, taucht man ein in ein Gruselkabinett, in dem es ständig Mord und Totschlag gibt – begangen mit Raspeln, Kieferklauen, Scheren oder Stacheln. Der Boden ist bevölkert von Minimonstern. Wer sich mit ihnen beschäftigt, liebt sie trotzdem, braucht jedoch ein unerschütterliches Gemüt und vielleicht manchmal einen etwas schrägen Geschmack. Professor Willi Xylander, Direktor des Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz / Sachsen, formuliert es so: »Ich mag meine Bodentiere, aber zugegeben: Ich lieb sie auch schon ziemlich lange.«3

Die Hauptaufgabe dieser Myriaden von Lebewesen ist es, einen Stoff zu verarbeiten, dem die Böden ihre Fruchtbarkeit verdanken – den Kohlenstoff, Carbonium, kurz C. Er ist ein vielseitiges Element. In seiner reinen Form als Diamant ist er teuer und seine Größe und Klarheit ein Maßstab der Zuneigung des Liebsten. Handwerker nutzen ihn als Bleistift, dann heißt er Graphit, Autofahrer füllen ihn in Form von Benzin oder Diesel in ihre Tanks, und Klimaforscher sorgen sich seinetwegen, weil er zusammen mit zwei Sauerstoffatomen (O) die Erderwärmung fördert. Warum ist ausgerechnet der Kohlenstoff für das Leben so zentral? Weil er über eine einzigartige Fähigkeit verfügt, die er im heißen Inneren schwerer Sterne erworben hat. Dort verschmelzen drei Kerne des Gases Helium (He, je zwei Protonen, zwei Neutronen, zwei Elektronen) durch Kernfusion zu Kohlenstoffatomen (sechs Protonen, sechs Neutronen, sechs Elektronen). Zwei der Elektronen nutzt der Kohlenstoff, um sein Innerstes zu bilden, die restlichen vier hat er in seiner äußeren Schale deponiert, hätte aber Platz für acht.

Diese äußere Schale ist wie ein halb besetztes Karussell, dessen Betreiber alle einlädt, die gerade vorbeikommen, damit sie die leeren Plätze besetzen. Dabei ist der Kohlenstoff nicht wählerisch. Ihm ist es egal, ob es andere Elemente sind oder weitere Kohlenstoffatome. Nur Edelgase wie Helium oder Neon bleiben auf Distanz, denn die sind sich selbst genug. Diese Geselligkeit des Kohlenstoffs macht ihn zu einem idealen Kooperationspartner: An 90 Prozent aller bekannten Verbindungen ist der Don Juan unter den Elementen beteiligt. Und mit anderen Kohlenstoffatomen können Kohlenstoffatome lange Ketten, Ringe und Verzweigungen, Ebenen oder Kugeln bilden.

Alles Leben besteht zu einem großen Teil aus Kohlenstoff, Menschen beispielsweise zu 28 Prozent. »Jede Zelle, jeder Bestandteil der Zelle ist kohlenstoffbasiert«, schreibt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier. Ganz gleich, ob es sich um eine Amöbe handelt oder ein Bakterium, um Milbe, Maulwurf oder Mensch, der Kohlenstoff ist immer mit von der Partie. Sogar Viren, die keinen eigenen Stoffwechsel haben und sich nur in den Zellen ihrer Wirte vermehren können, schleppen Kohlenstoff als Teil ihrer genetischen Grundausrüstung von Wirt zu Wirt, so Angier.4 Er ist die Kraft, die alles Lebende zusammenhält, auch in der Welt unter unseren Füßen. »Das Schlüsselelement allen Lebens«, wie ihn der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi nannte.

Dabei kommt Kohlenstoff auf der Erde in relativ geringen Mengen vor. Im Weltraum ist er mit 4,6 Promille das vierthäufigste Element nach Wasserstoff (H), Helium und Sauerstoff. Bezogen auf die Gesamtmasse der Erde beträgt der Anteil des Kohlenstoffs hingegen gerade einmal ein halbes Promille. Das meiste davon, 99,8 Prozent, oder unvorstellbare 107 Gigatonnen (1 Gigatonne = 1 Milliarde Tonnen), ist im Kalkstein anorganisch fest gebunden, zum Beispiel in den Alpen oder im Gestein des Mount Everest. Anorganisch bedeutet unbelebt. Kalkstein ist hart, verwittert langsam und lässt sich allenfalls mit Säure auflösen. Deshalb bildet der Boden über kalkhaltigem Gestein meistens nur eine dünne Schicht. Flachgründig nennen Landwirte und Wissenschaftler das. Für den Klimawandel auf der Erde spielt der in Kalk gebundene Kohlenstoff kaum eine Rolle.

Das gilt weitgehend außerdem für die 38 000 Gigatonnen Kohlenstoff im Wasser, vor allem in den Ozeanen. Dort verbindet sich das CO2 aus der Luft mit Wasser (H2O) zu Hydrogencarbonat (HCO3), sinkt in die Tiefe und kommt vielleicht irgendwann wieder an die Erdoberfläche, wenn Erdbeben oder Vulkanausbrüche den Kohlenstoff ans Tageslicht befördern. Aber das dauert Jahrmillionen, und dann ist er so hart gepresst, dass er fest im Gestein gebunden ist. Bedeutender für den Klimawandel sind die circa 4100 Gigatonnen Kohlenstoff, die in Form von Kohle, Erdöl und Erdgas langfristig und unterirdisch gebunden sind, aber heute als Brennstoff genutzt werden. Dabei handelt es sich um organischen Kohlenstoff, der aus lebenden Zellen entstanden ist. Bei seiner Verbrennung reagiert er mit Sauerstoff zu CO2 und fördert so den Klimawandel.

Die Atmosphäre ist mit etwa 800 Gigatonnen der kleinste Kohlenstoffspeicher, aber für alles Leben auf dieser Erde, den Boden und den Klimawandel von zentraler Bedeutung, denn dieser kleinste Speicher ist sehr mobil. Hier ist der Kohlenstoff nicht, wie zum Beispiel in der Steinkohle oder dem Erdöl, an feste Moleküle gebunden, sondern bewegt sich zusammen mit zwei Sauerstoffatomen frei in der Luft, wird eingeatmet und ausgeatmet, in lebende Substanz eingebaut, umgebaut, gefressen, verdaut und wieder ausgeschieden. Weil die Atmosphäre ein kleiner mobiler Speicher ist, hat es solch gravierende Konsequenzen, wenn sich der Anteil von CO2 in der Atmosphäre erhöht. Lag er vor der industriellen Revolution bei 280 ppm (parts per million), so ist er seitdem wegen der Nutzung fossiler Brennstoffe auf 400 ppm angestiegen und wird vermutlich weiter steigen. Das spüren wir beispielsweise in Form der Erderwärmung.

Ebenso viel Kohlenstoff wie in der Atmosphäre ist in den Lebewesen, den Pflanzen, Tieren und Menschen, gespeichert. Hinzu kommen weitere 1580 Gigatonnen im Boden. Damit ist der Boden die größte terrestrische – also an die Landoberfläche gebundene – Senke für Kohlenstoff. In ihm ist so viel davon gespeichert wie in den Lebewesen und in der Atmosphäre zusammen. Denn alles, was stirbt, was Lebewesen auf dem Land ausscheiden oder absondern, nimmt der Boden früher oder später in sich auf. Eine Armee von über- und unterirdischen Lebewesen hilft ihm dabei, es entweder zu neuem Leben zu...

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