Kommunikation mit Sterbenden - Praxishandbuch zur Palliative-Care-Kommunikation

Kommunikation mit Sterbenden - Praxishandbuch zur Palliative-Care-Kommunikation

 

 

 

von: Janet Dunphy

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456960463

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1577 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Kommunikation mit Sterbenden - Praxishandbuch zur Palliative-Care-Kommunikation



Jeder wird diese Frage anders beantworten. Wenn Gesundheitsfachleute einem neuen Patienten begegnen, kennen sie dessen Wertvorstellungen oder die der Betreuungsperson in der Regel nicht, denn jeder ist das Produkt seiner Erfahrungen. Es wäre sehr nützlich für die Gesellschaft, wenn das Thema Beziehungen auf dem Lehrplan der Schulen stehen würde. Jeder Mensch hat Beziehungen und es kommt häufig vor, dass jüngere Beziehungen oft mit weniger Informationen und Fähigkeiten auskommen müssen. Beziehungen formen uns – sie sind wichtig und sie prägen und definieren uns. Kurzum, sie machen Gesundheitsfachleute und natürlich auch Patientinnen und Patienten zu dem, was sie sind.

Der Einfluss, den frühere und aktuelle Beziehungen auf Menschen ausüben, kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Bandbreite normaler Reak­tionen ist groß. Menschen reagieren völlig unterschiedlich. Dynamische Prozesse in der Familie spielen in unseren Beziehungen häufig eine wichtige Rolle und steuern viele unserer Reaktionen. Eine glückliche Familie, deren Mitglieder sich nahe stehen, reagiert sehr emotional und empfindet einen Verlust als einschneidend. Ein Familienmitglied, das keine enge Beziehung zur Familie oder eine gestörte Beziehung zu einem anderen Familienmitglied hat, reagiert ebenfalls sehr stark. Sicher ist nur, dass es in diesem Punkt keine Sicherheit gibt. In Kenntnis all dessen müssen Gesundheitsfachleute ihre Patientinnen und Patienten einschätzen und eine therapeutische Beziehung zu ihnen aufbauen, und dies in einer für Patienten und Betreuungspersonen meistens sehr schwierigen Zeit. Sie müssen mit allen anderen an der Behandlung beteiligten Gesundheitsfachleuten effizient kommunizieren und ihre «persönlichen Trigger» kennen – Situationen, die sie persönlich berühren und deshalb eine emotionale Reaktion bei ihnen auslösen können.

Zurück zur Frage vom Kapitelanfang. Gesundheitsfachleute werden häufig mit emotionalen Situationen und dynamischen Prozessen in Familien konfrontiert, die sie an eigene Erfahrungen erinnern; dies sind ihre «persönlichen Trigger». Manchmal sind die Trigger leicht zu erkennen und die Gesundheitsfachleute können sich darauf vorbereiten, manchmal werden sie unerwartet mit ihnen konfrontiert; die Trigger unterwandern ihr Radar und erschweren und verkomplizieren die Beziehung zwischen Patient und Gesundheitsexperte zusätzlich. Im Bereich der Gesundheitsversorgung erledigen die Gesundheitsfachleute ihre Aufgaben Zug um Zug, Aufgaben, bei denen die Lebenswege von Menschen einander berühren.

Fallbeispiel: Corinnes Geschichte

Ich bin 48 Jahre alt und arbeite als erfahrene spezialisierte Pflegefachperson in einem stark frequentierten Krankenhaus. Ich liebe meinen Beruf und habe auch nach 20 Jahren meine Entscheidung noch nicht bereut. Deshalb war die Einweisung eines älteren Mannes im Endstadium seiner Krankheit keine besondere Herausforderung für mich. Ich kannte die Station, auf der ältere Menschen betreut wurden, und das Personal dort sehr gut. Es schien kein klinisch komplizierter Fall zu sein und eigentlich sah alles danach aus, als würde Uwe an seinem metastasierenden Prostatakrebs friedlich sterben. Man hatte mich gebeten, kurz bei ihm vorbeizuschauen und zu prüfen, ob alles in Ordnung war.

Ich kam auf die Station, plauderte wie üblich freundschaftlich mit den Kolleginnen und ging dann in das Nebenzimmer, wo Uwe lag. Uwe war nicht bei Bewusstsein, er lag friedlich da und alles schien in Ordnung zu sein, aber mein Blick wurde von etwas anderem angezogen. Es war die kleine, elegante, sanft wirkende Dame, die im hinteren Teil des Zimmers saß, so als wolle sie niemandem im Weg sein (ihre Körpersprache und Position im Raum deuteten darauf hin). Sie war perfekt zurechtgemacht – Ohrringe, Kleidung, Schuhe, Schal und Handtasche waren aufeinander abgestimmt. Sie wirkte freundlich und bescheiden, so als hätte sie den Schmerz des bevorstehenden Verlustes akzeptiert.

Ich setzte mich zu ihr, um ihre Geschichte zu hören: Sie liebte Uwe, und das schon seit sie 20 waren. Sie hatten immer alles zusammen gemacht, hatten dieselben Interessen, führten eine altmodische Ehe, die 58 Jahre gut funktioniert hatte. Sie hatten sich gemeinsam um die Erziehung ihrer Kinder gekümmert. Uwe war Ingenieur und hatte sich im Haus um alles gekümmert, was mit Technik zu tun hatte; die Fernbedienung für den Fernseher war ein Buch mit sieben Siegeln für seine Frau Dora, die gekocht, geputzt und sich um den Haushalt und die Finanzen gekümmert hatte.

Sie hatten eine echte Partnerschaft und Freundschaft. Er war die Liebe ­ihres Lebens und nun sah sie zu, wie er starb, ohne Groll oder Verbitterung. Sie flüsterte philosophisch: «Wissen Sie, meine Liebe, das steht uns allen bevor», so als müsste sie mich, die jüngere Frau, die noch nicht so lange auf dieser Erde lebte und noch viel über Liebe und Loslassen zu lernen hatte, vorbereiten. Sie hatte keinerlei Bedenken oder Fragen; sie nahm die Situation in Würde und Demut an. Sie war voll des Lobes für das Personal und dankte mir für meinen Besuch: «Sie haben so ein nettes freundliches Gesicht», sagte sie und tätschelte meine Hand, so als wolle sie sagen, es ist jetzt gut, meine Liebe, hier ist alles in Ordnung.

Ich verließ das Zimmer, ging aber nicht wie üblich zu den Kolleginnen und Kollegen, um mit ihnen zu sprechen, weil ich weinen musste. Große Tränen liefen mir langsam über das Gesicht, während ich über die belebte Station ging. Ich sah meine Mutter und meinen Vater in den beiden. Ich konnte mir vorstellen, dass es bei ihnen genauso wäre. Meine Mutter ist dieser Frau sehr ähnlich und ich weiß, auch sie würde so ruhig dasitzen, elegant, schicksalsergeben und sanft, während ihr Lebenspartner von ihr geht. Diese Situation, die ich nicht vorausgesehen habe, hat mich eine Weile emotional sehr berührt.

Es war eine gute Erfahrung und ich habe aus ihr gelernt. Ich rief auf der Station an, um die Kolleginnen und Kollegen zu informieren. Sie verstanden und respektierten meine Reaktion, denn so etwas kann jedem von uns passieren. Die Verarbeitung der Situation trägt zu unserer Weiterentwicklung bei. Ich bin froh, dass ich Uwe und Dora kennengelernt habe und hoffe, dass Dora auch in dem traurigsten Moment ihres Lebens gespürt hat, dass jemand bei ihr ist, der mit ihr fühlt. Das war alles, was sie an diesem Tag brauchte.

Aus Corinnes Geschichte lässt sich vieles lernen und ableiten. Sie macht deutlich, was «persönliche Trigger» sind. Was diese Geschichte uns lehrt, ist übertragbar auf andere Situationen, die Gesundheitsfachleute häufig erleben. Jeder hat eine Familie, Menschen, um die er sich kümmert, eine Vergangenheit, eine persönliche Geschichte, die einzigartig ist, aber oft auch Übereinstimmungen mit anderen aufweist. Manchmal können die Gesundheitsfachleute die Trigger anhand der schriftlichen oder mündlichen Überweisung erkennen. Dann haben sie Zeit, sich vor der Begegnung mit dem Patienten auf ihre Emotionen einzustellen. Manchmal müssen sie dies jedoch in der Situation selbst tun, während sie sich äußerlich als freundliche Experten geben, und das ist schwer. Dies anzuerkennen, ist wichtig. Gesundheitsfachleute, die zuerst Menschen und dann Gesundheitsfachleute sein wollen, machen nichts falsch. Sich wie ein Mensch zu verhalten und sich in die Situation der Patientinnen und Patienten und ihrer Betreuungspersonen zu versetzen, ist von ausschlaggebender Bedeutung für das Gelingen von Interaktionen. Dies gibt Menschen in Ausnahme­situationen das Gefühl, verstanden zu werden und sicher und gut aufgehoben zu sein.

Der Begriff «fürsorgliches Verhalten» (caring) darf nicht mit Selbstaufopferung oder Tugendhaftigkeit verwechselt werden. Pflege ist ein komplexes ­Konzept, das Urteilsvermögen, komplexe Denkprozessen, Instinkt, Erfahrung, Kompetenz und Wissen voraussetzt. Es ist weit mehr als das altruistische Verhalten einer «netten Person». Gesundheitsfachleuten fällt es schwer zu sagen, was fürsorgliches Verhalten ist; dazu sollten sie stehen, um ihr Selbstwertgefühl zu verbessern, von ihren Vorgesetzten und der Öffentlichkeit besser verstanden zu werden und über ihre Rolle aufzuklären.

Für die Interaktion mit Dora war es erforderlich, Doras (und wohl auch Uwes) Wertesystem zu kennen. Corinne hat zugehört und war im Hier und Jetzt präsent. Deshalb konnte sie mit Dora in Kontakt treten, die ihr sofort wichtige persönliche Dinge mitteilte, die Corinne einen Eindruck von Doras Beziehung zu dem Patienten verschafften und ihr die Möglichkeit gaben, Dora auf angemessene Art zu unterstützen, während Corinne die Symptome und den Pflegeplan des Patienten überprüfte. Es gelang ihr, in einer emotional aufgeladenen Situation eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Dora hat ­Corinnes Betroffenheit nicht wahrgenommen, aber ihre Freundlichkeit, und sie war dankbar dafür – in diesem kurzen Besuch auf der Station offenbart sich das Können, die Kunst und die Wissenschaft der Pflege.

Dora hatte so viel Vertrauen zu Corinne, dass sie ihr kostbare Erinnerungen, Erkenntnisse und grundlegende Erfahrungen anvertraute, Informationen, auf die Corinne ihre Reaktionen abstimmen konnte. Corinne verhielt sich fürsorglich, aber ihr Verhalten war nicht von ihren Emotionen, sondern von ihrem Verstand bestimmt. Käme es in der Beziehung zwischen Gesundheitsfachleuten und Patienten/Betreuungspersonen nur auf fürsorgliches Verhalten an, wäre jeder für die Arbeit geeignet, aber das ist nicht so; sie erfordert weit mehr als fürsorgliches Verhalten. Darauf möchte ich im folgenden Kapitel ausführlicher eingehen.

Corinnes Geschichte zeigt auch, wie rücksichtsvoll sie sich gegenüber ihren...

Kategorien

Empfehlungen

Service

Info/Kontakt