Sterbefasten - Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

Sterbefasten - Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit

 

 

 

von: Peter Kaufmann, Manuel Trachsel, Christian Walther

Kohlhammer Verlag, 2020

ISBN: 9783170366664

Sprache: Deutsch

125 Seiten, Download: 2906 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Sterbefasten - Fallbeispiele zur Diskussion über den Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit



Gute Unterstützung


Mittlerweile hatte Frau K. sich mit ihren Söhnen auf ein Datum für den Beginn des Fastens geeinigt. Es sollte an einem Sonntagabend beginnen. Damit hatten die Enkel und eine Schwiegertochter die Gelegenheit, zu einem Abschiedsbesuch anzureisen.

Dieser Besuch war ein fast heiteres Zusammensein. Da Frau K. von der gesamten Familie Unterstützung erfuhr, war es eher feierlich, aber es gab keine Tränen.

Dem jüngeren Sohn war bald klar, dass er seine Mutter auf ihrem letzten Weg unterstützen und begleiten wollte – was sie längst schon innerlich erhofft hatte. Der andere Sohn war distanzierter: Obwohl er das Vorhaben unterstützte, konnte er sich nicht vorstellen, den Sterbeprozess zu begleiten. Dennoch kam er in der letzten Woche jeden Abend zu Besuch. Der behandelnde Arzt sicherte Frau K. ebenfalls seine generelle Unterstützung zu, genauso wie die Leitung der Pflegestation, die im Beisein des jüngeren Sohnes am ersten Morgen des Sterbefastens von Frau K. auch das Pflegepersonal informierte. Frau K. freute sich sehr, als sie erfuhr, wie positiv die Reaktionen waren: »Mehrere haben das Wort ergriffen, weil sie ihrer Bewunderung über diesen mutigen Schritt ausdrücken wollten. Meine Mutter hatte nun keine Bedenken mehr, dass ihr Vorhaben an äußeren Umständen scheitern könnte.«

Am Nachmittag konnte Frau K. noch ein letzter Wunsch erfüllt werden: Mit dem Auto ging es zu ihrem Lieblingspark, wo ihr Sohn sie noch einmal in die Natur führte und mit ihr im Rollstuhl einen langen Spaziergang machte. Abends erhielt sie ein Zäpfchen Diazepam zur Beruhigung. Die Pflegeprodukte für Mund, Augen und Haut, die Frau K. in den letzten Wochen bereits ausprobiert hatte, standen bereit. Anscheinend spürte sie dann aber kein großes Bedürfnis nach Mundpflege. Zwar wurde einige Male pro Tag ein Mundspray angewendet, doch mehrfach, wenn der Sohn ihr den Mund mit Flüssigkeit befeuchten wollte, schob sie dessen Hand weg. Sie wusste, dass sogar geringe Mengen Flüssigkeit den Sterbeprozess verlängern können. Ihr Sohn verstand es so: »Sie hat bewusst den vielleicht schwereren, aber möglichst schnellen Weg gewählt.« Es stand übrigens immer ein Getränk für sie bereit, damit nicht der Anschein erweckt wurde, ihr werde Flüssigkeit vorenthalten.

Ein kurzer Verlauf


In der ersten Nacht schlief sie noch allein im Zimmer; für die nächsten Tage war eine Sitzwache organisiert worden. Am Morgen des zweiten Tages wurde Frau K. auf eigenen Wunsch im Bett gewaschen. Gegen Mittag war sie bereit, sich in ihren Sessel zu setzen, doch war sie so schwach und müde, dass sie nach einer Viertelstunde wieder ins Bett wollte. Auch die zweite Nacht verlief unruhig, obwohl ihr die Diazepam-Zäpfchen im Acht-Stunden-Rhythmus verabreicht wurden. Am Vormittag des dritten Tages bat sie ihren Sohn, der sie kaum noch verstehen konnte, um ein Medikament, mit dem sie durchgehend schlafen könne. Der Arzt kam auf einen letzten Besuch, sprach mit ihr und fragte sie, ob sie ihr Sterbefasten nicht vielleicht doch abbrechen wolle. Mit letzter Kraft verneinte sie dies nachdrücklich. Der Arzt verschrieb daraufhin Morphin, was bewirkte, dass sie in den folgenden Nächten durchgehend schlief.

»Bei der Körperpflege, beim Umlagern und anderen nötigen Pflegehandlungen konnten wir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr feststellen, ob noch etwas aus der Realität in ihr Bewusstsein drang«, schrieb ihr Sohn. Genau sieben Tage und sieben Stunden nach der letzten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verstarb Frau K. Beide Söhne sind der festen Überzeugung, dass der Ablauf genau im Sinne ihrer Mutter war und nicht besser hätte sein können.

Anmerkung


Auf Anraten hatte Frau K. noch eine spezielle Patientenverfügung (PV) erstellt, in der sie den gewünschten Umgang während des Sterbefastens beschrieben hatte (auf der Grundlage eines Vorschlages im Anhang des Buches »Ausweg am Lebensende«, Chabot & Walther 2017). Diese PV wurde dann gut sichtbar neben dem Bett der Patientin aufgehängt, so dass Ärzte und Pflegende sie nicht ignorieren konnten. Der Pflegeleitung war diese PV wichtig, während sie für den betreuenden Arzt keine besondere Rolle spielte.

Zum einen wird durch eine solche Verfügung der Möglichkeit vorgebeugt, dass bei fehlender Ansprechbarkeit in einem fortgeschrittenen Verlauf des FVNF Nahrung und Flüssigkeit zugeführt werden, womit der Sterbeprozess verzögert würde. Ärzte, die normalerweise die Pflicht haben, Leben zu retten, werden von dieser entbunden und orientieren sich am mutmaßlichen Willen der Person.

Frau K. hatte zudem für den Fall, dass sie in einem bewusstseinsgetrübten Zustand um ein Getränk bäte, die Möglichkeit angekreuzt, dass man diesen Wunsch ausschlagen solle. Sie fürchtete, dass sie sonst wahrscheinlich nach Wiedererlangung des Bewusstseins mit dem Sterbefasten von vorne beginnen müsste und sich dieses damit unnötig verlängern würde. Medizinethisch gibt es zu diesem Punkt bislang keine einheitliche Meinung.

Quelle


Christian Walther, der den beratenden Arzt schon seit längerem gut kennt, erfuhr von diesem den Fall. Der Arzt vermittelte daraufhin den Kontakt zu dem Sohn, der seine Mutter im Sterbefasten durchgehend betreut hatte. Er war freundlicherweise bereit, uns einen ausführlichen Bericht zu senden, auf dem diese Darstellung fußt.

Fall 11: Weiterleben schien unerträglich und völlig ohne Sinn


Spätfolgen einer Hirnoperation machten dem 70-jährigen Rentner Beat F. gesundheitlich schwer zu schaffen, so dass er in einem Pflegeheim betreut werden musste. Obwohl sein Zustand stabil blieb, hatte er keine Lebenslust mehr. Er entschloss sich zum Sterbefasten.

Seit seiner Jugendzeit hatte Beat F. in Laienformationen Trompete gespielt. Jeweils schon Wochen zuvor freute er sich auf den nächsten öffentlichen Auftritt. Am liebsten spielte er Jazz, oft aber auch geistliche Musik bei kirchlichen Anlässen. Er war ein humorvoller, witziger und vielseitig begabter Mann, von Beruf Physiotherapeut und kulturell sehr interessiert. Wegen seines offenen Charakters war er recht beliebt in einem seit Jahrzehnten bestehenden Freundeskreis. Die Musik war mehr als ein Hobby, es war eine Passion, ein Ausgleich zu seiner anstrengenden körperlichen Tätigkeit. Wenn er einmal pensioniert sein würde, so hoffte er, könnte er noch einige weitere Jahre musizieren und sein Hobby zum Lebensinhalt machen.

Es sollte anders kommen. Ein Jahr vor dem Eintritt ins Rentenalter hatte Beat F. öfters starke Kopfschmerzen. Als er es nicht mehr aushielt, schickte ihn sein Hausarzt zu einem Spezialisten zur genaueren Abklärung. Ein Hirntumor wurde diagnostiziert, der rasch operiert wurde. Die Operation verlief sehr gut. Die ersten drei Jahre danach war Beat F. voller Hoffnung trotz einiger körperlicher Einschränkungen wie gelegentlicher leichter Lähmungserscheinungen. Vernarbungen im Hirn lösten dann jedoch heftige Epilepsieanfälle aus, die in immer kürzeren Abständen auftraten. Sechs Jahre nach der OP musste Beat F. in ein Pflegeheim eingewiesen werden, obwohl er dies nie gewollt hatte. Die Langzeitprognose war relativ gut: Er hatte keine großen Schmerzen, seine körperlichen Einschränkungen hatten sich seit Monaten nicht mehr verschlechtert. Sein Hausarzt, der ihn seit Langem betreute, meinte: »Bei guter Pflege können Sie noch viele Jahre weiterleben. Sie müssen einfach das Beste aus Ihrer Situation machen.«

Unerträgliche Lebenssituation


Der gut gemeinte Rat des Mediziners klang für den früher sehr aktiven Mann eher zynisch. Für Beat F. war seine Lage keineswegs akzeptierbar. Weil er mittlerweile bettlägerig war und in schlimmer Weise körperlich verkrampft, musste ihn das Pflegepersonal regelmäßig umbetten. Noch konnte er, wenn auch mühsam, selbständig essen und trinken. Doch bei Lieblingsbeschäftigungen wie Fernsehen, Lesen oder Musikhören, aber auch bei Recherchen am Computer wurde er nach sehr kurzer Zeit müde und bekam heftige Kopfschmerzen. Sein hoffnungsloser Zustand machte ihn, der früher zu allen Menschen so liebenswürdig war, oft missmutig und schroff. In erster Linie gegenüber den Pflegenden, aber auch gegenüber seiner Lebensgefährtin, die ihn fast täglich besuchte. Am meisten zu schaffen aber machte ihm, dass er nicht mehr musizieren konnte.

Für seine Angehörigen und das Pflegepersonal überraschend, kündigte Beat F. an, er wolle mit Sterbefasten beginnen. »Meine Lebenssituation ist für mich absolut unerträglich. Mir fehlt alles, was mir früher Freude gemacht hat und mir noch immer viel bedeutet.« Beat haderte mit seiner Situation und betonte, dass er sich seinem Umfeld nicht mehr länger zumuten möchte. »Das Weiterleben ist...

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