Anleitung zum Müßiggang

Anleitung zum Müßiggang

 

 

 

von: Tom Hodgkinson

kein & aber, 2013

ISBN: 9783954030408

Sprache: Deutsch

382 Seiten, Download: 980 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Anleitung zum Müßiggang



8 UHR MORGENS

Aufwachen – eine Qual

Laßt uns faul in allen Sachen,

Nur nicht faul zu Lieb’ und Wein,

Nur nicht faul zur Faulheit sein.

Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)

Den Besten fehlt jegliche Überzeugung, während die
Schlechtesten voll leidenschaftlicher Gespanntheit sind.

W.B.Yeats »The Second Coming« (1921)

Ob der hart arbeitende amerikanische Rationalist und Fleißapostel Benjamin Franklin wohl gewusst hat, wie viel Elend er in die Welt bringen würde, als er sich im Jahr 1757 mit puritanischer Inbrunst für den banalen und offenkundig unwahren Aphorismus »Früh schlafen gehn und früh aufstehn schafft Reichtum, Weisheit, Wohlergehn« einsetzte und die Werbetrommel rührte?

Es ist eine traurige Wahrheit, dass wir von frühester Kindheit an mit dem moralischen Märchen tyrannisiert werden, dass es richtig, sittsam und gut ist, beim Erwachen augenblicklich aus dem Bett zu springen, um uns so schnell und fröhlich wie möglich an irgendeine nützliche Arbeit zu machen. In meinem Fall war es meine Mutter, die mich, ich erinnere mich deutlich, jeden Morgen anschrie, ich solle gefälligst aufstehen. Während ich mit geschlossenen Augen in seliger Behaglichkeit dalag und versuchte, einem schwindenden Traum nachzuhängen und mit allen Mitteln ihr Geschrei zu überhören, begann ich mir auszurechnen, wie ich in kürzester Zeit aufstehen, frühstücken und zur Schule rennen könnte, um dort zur Morgenandacht keine Sekunde zu früh zu erscheinen. All diese geistigen Findigkeiten und Mühen wandte ich an, um ein paar Augenblicke länger glücklich vor mich hindösen zu können. So beginnt der Müßiggänger mit dem Erlernen seiner Kunst.

Die Eltern wenden diese Gehirnwäsche als Erste an, und dann prügelt die Schule ihren Zöglingen die Notwendigkeit zeitig aufzustehen mit noch drastischeren Methoden ein. Ein schlechtes Gewissen darüber, dass ich mich körperlich vollkommen außerstande sah, am frühen Morgen aufzustehen, hatte ich noch mit weit über zwanzig. Jahrelang kämpfte ich mit Gefühlen des Selbsthasses, die meine morgendliche Apathie begleiteten. Ich nahm mir vor, um acht aufzustehen. Als Student dachte ich mir ein kompliziertes Wecksystem aus. Ich kaufte mir eine Zeitschaltuhr und stellte sie so ein, dass sie meine Kaffeemaschine und zugleich meinen Plattenspieler in Gang setzte, auf den ich meine lauteste Platte gelegt hatte, Alive von The Ramones. Zehn vor acht war die vorgesehene Zeit. Ich hatte die Platte so eingestellt, dass sie mit ohrenbetäubender Lautstärke losging. Da es sich um eine Live-Aufnahme handelte, waren vor dem ersten Song Publikumsgeräusche zu hören. Der Beifall und das Geschrei weckten mich, und ich wusste, ich hatte nur wenige Sekunden Zeit, um aus dem Bett zu springen und die Lautstärke runterzudrehen, bevor Dee Dee Ramone »one – two – three – four« ächzen konnte und die Anfangsakkorde von »Rockaway Beach« donnernd über meine Mitbewohner und mich herfielen. Die Idee war, dass ich anschließend Kaffee trinken und meinen Körper allmählich ans Wachsein gewöhnen würde. Es klappte beinahe. Als ich die Publikumsgeräusche hörte, sprang ich aus dem Bett und zögerte einen Augenblick. Aber was dann geschah, war natürlich, dass ich den Ton völlig wegdrehte, den Kaffee keines Blickes würdigte und in die kuscheligwarme Hülle meines Federbettes zurückkroch. Gegen halb elf kam ich dann so langsam zu mir, döste noch bis zwölf und kam schließlich in einem Anfall tiefer Selbstverachtung schwankend auf die Beine. Ich war damals ein echter Moralist: ich malte mir sogar ein Plakat für meine Wand, auf dem stand: »Edification first, then have some fun.« Das war insofern hip, als es ein Songtext der Hardcore-Punkband Bad Brains war, aber die Botschaft – ich denke, da wirst du mir zustimmen – ist trist. Heute mache ich es genau anders herum.

Erst viele Jahre später kam ich dahinter, dass ich nicht allein war mit meiner Trägheit und den widerstreitenden Empfindungen von Freude und schlechtem Gewissen, die sie begleiten. Es gibt eine reiche Literatur zu diesem Thema. Und im Allgemeinen stammt sie von den besten, ulkigsten und vergnüglichsten Autoren. Der viktorianische Humorist Jerome K. Jerome veröffentlichte 1889 einen Essay mit dem Titel »On Being Idle«. Du kannst dir vorstellen, wie viel besser ich mich fühlte, als ich die folgende Passage las, in der Jerome über die Freuden des Dösens nachdenkt:

Ach, wie köstlich ist es, sich noch einmal umzudrehen und wieder einzuschlafen: »nur für fünf Minuten«. Gibt es denn überhaupt einen Menschen, frage ich mich, außer dem Helden in einer Sonntagsschul-»Geschichte für Jungen«, der gerne aufsteht? Es gibt Menschen, für die pünktliches Aufstehen total unmöglich ist. Wenn zum Beispiel acht Uhr die Zeit ist, zu der sie sich aus den Federn erheben sollten, bleiben sie bis halb neun liegen. Sollten sich die Umstände ändern und halb neun ist für sie noch zeitig genug, dann wird es neun, ehe sie aufstehen: Sie sind wie der Staatsmann, von dem es hieß, er komme stets pünktlich ein halbe Stunde zu spät. Sie probieren alle möglichen Konzepte aus. Sie kaufen sich Weckeruhren (raffinierte Apparate, die zur falschen Zeit losgehen und die falschen Leute erschrecken) … Ich kannte mal jemanden, der stand tatsächlich auf und nahm ein kaltes Bad; und selbst das war nutzlos, denn hinterher hüpfte er wieder ins Bett, um sich aufzuwärmen.

Der erklärte Langschläfer Louis Theroux, der für die von mir herausgegebene Zeitschrift The Idler schreibt, erinnert sich an eine diesbezügliche List, die sich sein Freund Ken ausgedacht hatte. »Die ging folgendermaßen: Halte auf deinem Nachttisch einen Becher kalten Kaffee und zwei Tabletten Pro Plus bereit. Stelle den Wecker auf zwanzig nach acht – eine halbe Stunde, bevor du wirklich aufstehen musst –, und wenn er klingelt, in dem Augenblick der Klarheit, die der Wecker auslöst, kippst du den Kaffee samt den Pillen runter und schläfst weiter. Eine halbe Stunde später bist du von der massiven Wirkung des Koffeins knallwach.«

Der Schlaf ist ein mächtiger Verführer, daher die furchterregende Apparatur, die wir zu seiner Bekämpfung entwickelt haben. Ich meine die Weckeruhr. Großer Gott! Welches boshafte Genie hat diese beiden Feinde des Nichtstuns – Uhr und Wecken – zu einer Einheit zusammengefügt? Jeden Morgen werden in der ganzen westlichen Welt zufrieden träumende Menschen durch ein ohrenbetäubendes Klingeln oder hartnäckiges elektronisches Piepsen rüde aus dem Schlaf gerissen. Der Wecker ist die erste Station in der unseligen Verwandlung vom glücklichen, sorglosen Träumer zum angstgeplagten und mit Verantwortung und Pflichten beladenen Arbeitstier, zu der wir uns jeden Morgen zwingen. Was wirklich verblüfft, ist die Tatsache, dass wir die Wecker freiwillig kaufen. Ist es nicht absurd, das wir unser mühsam verdientes Geld für ein Gerät ausgeben, das dazu dient, jeden Tag unseres Lebens so unerfreulich wie möglich beginnen zu lassen und in Wirklichkeit nur dem Arbeitgeber nutzt, dem wir unsere Zeit verkaufen? Ja, es gibt einige Wecker, die ohne Klingeln auskommen und uns stattdessen mit dem Geplauder frühmorgendlicher Rundfunkmoderatoren wecken, aber sind die auch nur einen Deut besser? Die quälende Heiterkeit dieser Leute ist dazu da, uns für den vor uns liegenden Tag in Stimmung zu bringen oder mit blöden Witzen von unserem ganzen Jammer abzulenken. Mir geht das einfach auf die Nerven. Es gibt nichts Schlimmeres als die banale Fröhlichkeit eines anderen Menschen, wenn man sich im Zustand tiefen, heftigen, existentiellen Nachdenkens befindet. Wie mein Freund John Moore, der faulste Mensch der Welt, zu sagen pflegt, wenn seine Frau ihn zu wecken versucht: »Ich stehe auf, wenn es etwas gibt, wofür sich das Aufstehen lohnt.«

In England ist die hochgestochene Version dieses nationalen Weckrufs die Sendung Today bei Radio 4, in der die Katastrophen des Tages mit großer Ernsthaftigkeit und Sorge erörtert werden. In den meisten Ländern gibt es ernste Nachrichtensendungen gleich als Erstes am Morgen. Sie lösen beim Hörer Empfindungen wie Wut und Angst aus. Aber es gibt Menschen, die der Meinung sind, es sei ihre Pflicht, dem zuzuhören. Als würde das bloße Zuhören die Welt irgendwie besser machen. Pflicht, oh welche Last bist du! Gibt es denn keinen Platz für einen nachrichtenfreien Sender? Wenn ich klassische Musik im Radio höre, zum Beispiel beim Autofahren, gibt es nichts Schlimmeres, als wenn meine Träumereien und Gedankenströme durch die ermüdende Realität der Nachrichten unterbrochen werden.

Also: für die meisten von uns beginnt der Werktag quälend, wir werden dem Nektar des Vergessens entrissen und mit dem Ansinnen...

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