Basale Stimulation® in der Pflege - Die Grundlagen

Basale Stimulation® in der Pflege - Die Grundlagen

 

 

 

von: Christel Bienstein, Andreas Fröhlich

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456960432

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 10377 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Basale Stimulation® in der Pflege - Die Grundlagen



Einleitende Gedanken


Menschen werden langsam oder auch plötzlich zu Menschen, die der Unterstützung anderer bedürfen. Sie werden dann meist mit dem Begriff „Patienten“ bezeichnet. Sie erleiden etwas, wie der lateinische Begriff patiens (leidend, erduldend, geduldig) beschreibt: Schmerz, Funktionsstörungen, Übelkeit, Verwirrung und auch Angst. Diese Menschen erleiden aber auch Behandlung, Eingriffe, Manipulationen und viele, zum Teil fremde und verwirrende Maßnahmen am eigenen Körper. In dieser Situation werden leidende Menschen vom selbstbestimmten Subjekt zu einem relativ fremdbestimmten Objekt von Diagnostik, Therapie und Pflege.

Das Ereignis oder der Prozess, der einen Menschen zum Patienten werden lässt, wird entweder als Schock, aggressiver Akt oder auch als schleichender Abbauprozess erlebt. Patient werden heißt auch immer, Verluste in Kauf nehmen zu müssen, „nicht mehr der Alte zu sein“ und sich bedroht zu fühlen. Patienten sind also nicht nur krank, sondern stehen inmitten eines oft sehr dynamischen, ja, turbulenten Entwicklungsprozesses ihrer Persönlichkeit. „Etwas“ ist aus den Fugen geraten, ist nicht mehr stimmig und organisiert sich neu, ohne dass der betroffene Mensch weiß, in welche Richtung diese Entwicklung geht.

Es ist uns bewusst, dass beispielsweise Menschen mit demenziellen Prozessen nicht automatisch zu Patienten werden. Aus diesem Grunde wechseln wir innerhalb des Textes häufig die Bezeichnungen. So reden wir von Betroffenen, beeinträchtigten Menschen oder eben von Patienten. (Anm. der Autoren zum Begriff Patient: In diesem Buch wird meist die männliche Form gewählt, gemeint sind jedoch ebenso Frauen und Mädchen sowie Personen, die sich weder dem einen noch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen).

Pflegende haben die Aufgabe, sich mit dem ganzen Menschen auseinanderzusetzen. Sie können sich nicht ausschließlich auf seine Funktionsstörungen, auf die Krankheitssymptomatik im klassischen Sinn konzentrieren, sondern müssen all die Ängste, Aufregungen und Verwirrungen des Erkrankten mitberücksichtigen. Die Angehörigen nehmen in diesem Prozess eine bedeutende Rolle ein. Nicht nur der Betroffene selbst, sondern auch seine Angehörigen bedürfen der Unterstützung, um in die veränderte Situation hineinzuwachsen. Hier sind Aufklärung, Anleitung, aber auch nahe Begleitung erforderlich.

Nur die ganze Person kann mit der Hilfe von Medizin, Pflege und therapeutischen Interventionen gesunden. Ein Pflegeverständnis, das sich zu eng auf die Krankheit bezieht, kann dem Menschen in einer sehr schwierigen Lebensphase nicht gerecht werden.

In diesem Buch beschäftigen wir uns insbesondere mit Menschen, die eine schwere längerfristige Einschränkung in wichtigen vitalen Funktionen zeigen. Die Patienten, von denen hier gesprochen wird, sind Patienten auf neurochirurgischen oder allgemeinen Intensivstationen ebenso wie Frühgeborene und Babys, die einer intensivmedizinischen Betreuung bedürfen. Zudem sprechen wir von ausgeprägt altersverwirrten Menschen und neurologisch Beeinträchtigten sowie von Menschen, die sich im Sterben befinden.

All diese Menschen haben ein höchst individuelles Schicksal erlitten und dennoch kann von gewissen Gemeinsamkeiten ausgegangen werden. Ihre Identität, ihr Körper hat sich durch einen Schock, eine Verletzung, einen ärztlichen Eingriff oder eben durch Abbauprozesse und Funktionsverluste in radikaler Weise verändert. Die empfundenen Schmerzen lassen sie den eigenen Körper als feindlich erleben und das Gefühl von Verwirrung bewirkt eine persönliche Entfremdung. Davon ausgehend, dass das „Körper-Ich“ das primäre Selbst eines Menschen darstellt, wird leicht offensichtlich, dass auch körperliche Beeinträchtigungen eine existenzielle Bedrohung der Identität darstellen. Es kommt zum Verlust der persönlichen Integrität (integer, lateinisch = unberührt, unangetastet, heil, ganz).

Folgende Gedanken könnten für Patienten in dieser Situation typisch sein:

„Ich bin nicht mehr derjenige, der ich gewesen war, ich erkenne mich in meinem jetzigen Zustand kaum wieder. Ich fühle mich bedroht, habe Angst, so nicht mehr weiterleben zu können. Mein eigener Körper ist mir kein Zuhause mehr. Er wird mir fremd, bedroht mich sogar und scheint sich aufzulösen. Ich spüre, dass ich angegriffen und in Gefahr bin, mich selbst zu verlieren.“

Menschen, die sich in solchen Lebenssituationen befinden, fühlen sich gespalten und nicht mehr als die Person, die sie einmal waren.

Pflegerische und medizinische Maßnahmen traditioneller Art widmen sich insbesondere den gestörten bzw. geschädigten Bereichen des Körpers und ihren Funktionen. Häufig treibt die starke Konzentration auf pflegerische und medizinische Tätigkeiten, die die Krankheit und gestörte Organfunktionen betreffen, die Spaltung weiter voran. Gesundung, so unsere Überzeugung, ist hingegen ein aktiver Prozess des ganzen Menschen. Des Menschen, der sich selbst wieder neu organisieren muss, um zu einer neuen, möglicherweise veränderten Einheit zu finden.

Es kann nicht mehr von der traditionellen Sichtweise der Trennung von Körper, Geist und Seele ausgegangen werden. Diese Trennung ist rein virtuell und dient lediglich der Betonung eines bestimmten Schwerpunktes. Der Körper ist durch die Anwesenheit von Geist und Seele geprägt, er ist, bildlich betrachtet, durchwoben. Alle Erfahrungen des Körpers sind auch Erfahrungen, die die Psyche und das Bewusstsein des Menschen berühren. Körperliche Verletzungenkönnen zu Ängsten oder in ihrer Aufarbeitung zur Herausbildung von Vermeidungsstrategien führen, die dann bereits im Vorfeld quasi präventiv eingesetzt werden. Ebenso prägen psychische Verletzungen den Körper. Offensichtlich wird das bei depressiven Menschen, deren Körperhaltung ihrem Erleben angepasst ist, obwohl der Körper an sich nicht krank ist.

Das Konzept der Basalen Stimulation verspricht, dieser „Verwobenheit“ Rechnung zu tragen. Es stellt ein Angebot dar, die Neuorganisation des Patienten zu unterstützen. Die Selbstheilungskräfte, so unsere Annahme, sind im Wesentlichen im Patienten selbst zu suchen. Unsere Aufgabe ist es, ihm Hilfestellung zu geben, eine Atmosphäre und Umgebung zu schaffen, in der er die verbleibenden Kräfte nutzen kann, um sich selbst neu auszutarieren.

Pflege kann in nahezu aussichtslos erscheinenden Situationen helfen, den Alltag ertragbar zu machen. Pflege macht nicht gesund, Pflege hilft beim Gesundwerden. Gleiches gilt für medizinische Bemühungen. Auch sie müssen in einem aktiven Prozess, der nicht zwangsläufig Erfolg verspricht, in und mit den Patienten integriert werden.

Selbst in der Sterbephase übernimmt der Betroffene den wesentlichsten Anteil. Die Pflege kann ihm dabei nur Angebote zur Erleichterung und Begleitung des Sterbeprozesses machen. Der Sterbende selbst ist derjenige, der über ihre Bedeutung entscheidet. Viele Sterbende erleben es als bedrohlich, sich im letzten Lebensabschnitt zu verlieren (Kostrzewa, 2013).

Für Menschen, deren Lebensweg zu Ende geht, kann eine ganzheitliche, basal begleitende Pflege eine wichtige Hilfe sein, sich auf das Ende und den Übergang in eine andere Daseinsform zu ordnen und zu orientieren. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass eine solche Pflege für sehr viele Menschen eine große Erleichterung ist. Sie können sich mit dieser Unterstützung eher in Frieden von der Welt verabschieden und sie hinter sich lassen.

Ein wesentlicher Grundgedanke, der unser pflegerisches Handeln bestimmt, ist in dem Begriffsbestandteil „basal“ enthalten. Basal meint, dass wir uns der einfachsten und elementarsten Möglichkeiten bedienen wollen, um einen anderen Menschen zu erreichen und mit ihm in Kontakt zu treten. Basal bedeutet aber auch, dass wir auf die Basis, d.h. das Fundament des menschlichen Handelns, zurückgreifen. So einfach wie nur möglich, ohne Forderungen an den Patienten zu stellen und ohne stillschweigende Voraussetzungen zu formulieren, die unser pflegerisches Handeln erst in Gang setzen. Der Patient braucht keine Leistung zu erbringen, er muss sich nicht in einer bestimmten Art und Weise verhalten, er muss sich nicht einmal kooperativ oder offen zeigen. Gerade angesichts tief bewusstloser Menschen kommt der Gedanke des Basalen zum Tragen. In diesem Zustand ist deutlich, dass der Mensch physisch anwesend ist. Er ist durch seinen Körper mit dieser Welt existenziell aufs Engste verbunden. Auch wenn der Mensch unter Zuhilfenahme von herkömmlichen Mitteln nicht mit uns in Verbindung zu treten scheint, akzeptieren wir seinen Körper als seine Existenzform.

Tiefe Bewusstlosigkeit, das Leben im Koma, heißt nicht zwangsläufig, dass der Mensch in keinem Kontakt mehr mit der Welt steht (Bienstein & Fröhlich, 1994; Damasio, 1999; Monti & Sannita, 2016; Silva et al., 2019).

Eine Annäherung an den Patienten ist auch möglich, wenn von ihm keine Reaktion erkennbar ist. Wir setzen darauf, dass Patienten sehr viel mehr in ihren psychischen Tiefen wahrnehmen als von außen beobachtet werden kann (Zieger, 2000). Wir geben ihnen Hinweise über ihre Situation, wir vermitteln ihnen Kontakt und Kommunikation, wir sorgen dafür, dass sie mit der Welt in einer basalen Beziehung bleiben. Wir gehen davon aus, dass die körperliche Bewusstlosigkeit nicht mit einer seelischen oder psychischen Bewusstlosigkeit gleichzusetzen ist. Wir verfügen mittlerweile über viele Erfahrungen, dass Menschen, obwohl sie nach klassischen Erkenntnissen eindeutig bewusstlos waren, das Geschehen um sich herum wahrnahmen und später...

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